Mein alter Baum

Mein alter Baum
wäscht nun sein grünes Haar 
im Teich
und schwingt sogleich 
die wintermüden Arme 
zum Trocknen
in den Frühlingswind.

Er kokettiert
und spiegelt sich 
und streichelt sanft 
den Wiesensaum, 
mein alter Baum, 
ein Großstadtkind.

Verhüllt die Narben, Buckel, Schrunde, 
den Schorf
und manche tiefe Wunde
mit Charme und Eitelkeit und List, 
weil eine Weide weiblich ist.

Noch wäscht mein alter Baum 
sein graues Haar
im Teich
und streckt sogleich 
die nackten Arme 
ins herbstlich kalte 
Himmelsblau.

Er kokettiert
und spiegelt sich
verstohlen nur
und küsst den Ufersaum, 
der jetzt gefriert,
mein alter Baum, 
die Frohnatur.

Zeigt all' die Narben, Buckel, Schrunde, 
den Schorf
und manche tiefe Wunde.
Doch bleibt sein Charme und etwas List, 
weil eine Weide weiblich ist.

aus VS Aktuell 4/2022, erschienen im  Meine Stadt   VS Aktuell 4/2022