V i s e w e – manchmal stehen hinter so einem drolligen Buchstaben- Gebilde ganz interessante und lustige Geschichten. Hier zum Beispiel, wie aus der jungen Textilverkäuferin Christine Schramm im September 1946 von einem Tag auf den anderen eine Neulehrerin geworden ist. Das seltsame Wortkonstrukt fabrizierte ein Schüler der dritten Klasse – ein Rabaukenhaufen, vor dem es jedem Lehrer graute. Die Neue wurde sogleich als Klassenleiterin eingesetzt. Und eigentlich sollten die Jungen nach ihrem Diktat schreiben : „... dem Vater taten die F ü ß e w e h ...“ Ähnliche Episoden gab es damals zu Hauf.
Bevor die in Sehma bei Annaberg-Buchholz Aufgewachsene von ihrer früheren Schuldirektorin Margot Dieckmann aus dem elterlichen Textilgeschäft heraus für den Pädagogenberuf gewonnen wurde, hatte sie schon reichlich härtere Erfahrungen gemacht. Noch nicht ganz erwachsen, musste sie im Oktober 1941, wie viele andere junge Mädchen, zum Reichsarbeitsdienst. Konkret diente sie bei einem Großbauern in der Nähe von Flensburg bis zum März 1942. Darauf folgte Kriegshilfsdienst als Straßenbahnschaffnerin in Kiel, und nach kurzem Aufenthalt im Heimatdorf zog sie der Nazistaat zur Kriegsmarine ein. Als Marinehelferin wurde sie am RADAR ausgebildet und war bis gegen Ende des Krieges auf der Insel Usedom eingesetzt. In britische Gefangenschaft geriet sie mit ihren Kameradinnen aber auf der Insel Fehmarn. Nach rund vier Monaten wurde sie dann entlassen. Auf fast abenteuerlichen Wegen, über Nordrhein-Westfalen, gelangte sie schließlich wieder ins Erzgebirge und in die Arme von Mutter Margarethe. Vater Ottomar fand im Herbst desselben Jahres nach Hause. Er war noch mit 56 Jahren eingezogen worden. Krieg und Gefangenschaft hatten ihn für den Rest seines Lebens zum Pflegefall gemacht. „Ich bin damals 1946 in die Volkssoldarität eingetreten, weil ich einfach mithelfen wollte, die Not zu lindern, die viele Menschen durch den von Deutschland ausgelösten Krieg erfahren haben“, sagt Christine. In gewisser Weise war sie auch selbst betroffen. Heiratspläne, die jede junge Frau hegte, erfüllten sich nicht. Ihr Freund war gefallen. „Wenn dreieinhalb Millionen deutsche Soldaten umgekommen sind, dann hatten eben dreieinhalb Millionen Frauen hierzulande keinen Mann“, bilanziert sie knapp jene Misere. Aber, „die Liebe, die viele ihren Familien geben, habe ich den Menschen gegeben, überall wo ich gearbeitet habe, ob in der Schule, in Gemeinden, beim Rat des Kreises Annaberg, in Gremien meiner Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD), als Bezirkstagsabgeordnete oder in der Industrie- und Handelskammer“, äußert sie nachdenklich.
Gern erinnert sich die schlanke, weißhaarige Frau an die Aufbruchstimmung , die in der Nachkriegszeit auch die Menschen in ihrer Erzgebirgsgemeinde erfasst hatte. Eine Laienspielgruppe der FDJ hat sie 1946 in Sehma gegründet. Bei deren Aufführungen verschiedener Volksstücke gab es immer volle Säle. Oft spendeten die jungen Akteure die Erlöse der Volkssolidarität. Einmal waren das 800 Mark, die sie in Annaberg-Buchholz eingespielt hatten. Auch an Kleider- und Unterwäsche-Sammlungen der “Soli“ für Bedürftige beteiligte sich Christine mit ihren FDJ-Mitgliedern.
Als ihre schönsten Jahre bezeichnet sie die Zeit von 1952 bis 1959, da sie als Bürgermeisterin in Cunersdorf vor den Toren der Kreisstadt wirkte. Hier konnte sie ihr Organisationstalent voll einsetzen, ob bei der Förderung der Freiwilligen Feuerwehr, bei der Beschleusung des bergigen Ortes oder beim Bau eines stabilen Rinderoffenstalls. Gemeinsam mit der Ortsgruppe der Volkssolidarität kümmerte sie sich um die älteren Bürger im Ort, half bei der Gestaltung von Weihnachtsfeiern und sorgte mit dafür, dass sich eine Familie, die aus Großbritannien zugezogen war, gut einleben konnte.
In ihrem ganzen Arbeitsleben hat sich Christine Schramm stets weitergebildet. Sie qualifizierte sich zur Russisch-Fachlehrerin. Von 1959 bis 1962 absolvierte sie die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg. Später belegte sie noch ein dreijähriges ökonomisches Fernstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig, um Komplementären in halbstaatlichen Betrieben mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Von ihrem Bildungsstreben zeugen ebenso die vielen Bücher in ihrer Wohnzimmerschrankwand. Ihr Lieblingsschriftsteller ist Lion Feuchtwanger, merkt sie an.
Mit dem Eintritt ins Rentnerdasein hat Christine Schramm zu keiner Zeit alle Fünfe gerade sein lassen. Im Flemming-Gebiet, wo sie seit 47 Jahren Am Karbel wohnt, übte und übt sie mehrere Funktionen in „ihrer“ Volkssolidarität aus, so als Gruppenkassiererin und als Revisorin. Seit 2008 ist sie stellvertretende Leiterin der Wohngruppe 065 und betreut außerdem noch 16 Mitglieder. „Sie hat guten Kontakt zu unseren Leuten, hilft, wo sie helfen kann, macht auch mal Krankenhausbesuche und erledigt ihre Kassierung gewissenhaft. Da muss man den Hut ziehen“, sagt die Wohngruppenleiterin Renate Vier von ihr. Sie liegen auf einer Wellenlänge. Ebenso ist es mit Edith Grimm, die ihr bei der Kassierung hilft und mit Christel Schneider. Beide wohnen im selben Haus wie Christine. Die drei Frauen unterstützen sich gegenseitig und nehmen auch gemeinsam seit langem ein Theateranrecht wahr. „Die direkten persönlichen Kontakte, die Gespräche, ob beim Kassieren, bei Gratulationen oder Einladungen sind sehr wertvoll“, sagt die Volkshelferin, „weil das dem Zusammenhalt dient. Das bringt zwar etwas mehr Aufwand, befriedigt mich aber auch, und tut uns allen gut.“