„Achtung, ich komme“, ruft Timmy* und springt vom Klettergerüst. Zusammen mit anderen Kindern der Kindertagesstätte „Sonnenbergstrolche“ tobt der Vierjährige im Garten der Einrichtung. Dass Timmy anders ist als seine Freunde, ist kaum zu erkennen. Er ist zwar in manchem etwas langsamer und in seiner Entwicklung noch nicht so weit wie gleichaltrige Kinder, aber das stört hier niemanden. Timmy gehört mit drei weiteren Kindern zu den drei bestätigten „integrativen Kindern“ der Einrichtung auf dem Sonnenberg. Die gemeinsame Erziehung und Betreuung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen bzw. mit und ohne Entwicklungsverzögerungen ist seit 1996 Alltag bei den „Sonnenbergstrolchen“.
Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Verhaltensweisen besuchen die Kindertagesstätte. Und davon profitieren letztlich alle. Neben Entwicklungsimpulsen bietet die integrative Erziehung auch wichtige gemeinsame Erfahrungen, die für die Sprösslinge sehr wertvoll sein können.
Insgesamt gibt es in der Kindertagesstätte, die sich seit 1995 in der Trägerschaft des Volkssolidarität Stadtverband Chemnitz e.V. befindet, zwölf Gruppen, davon zwei Integrativgruppen. Neben einer Erzieherin kümmern sich zwei Heilpädagogen und eine Heilerziehungspflegerin um die Kinder der beiden Gruppen.
Eine von ihnen ist Simone Scholz. Schon während ihrer Tätigkeit als Erzieherin hat es sie interessiert, warum es immer mehr verhaltensauffällige Kinder gibt, welche Ursachen das haben kann und wie man ihnen bestmöglich hilft. 2004 begann die heute 44-Jährige ihre drei Jahre dauernde berufsbegleitende Ausbildung zur Heilpädagogin. Auch Heilpädagogin Dorothea Geyler und Heilerziehungspflegerin Jana Röper gehören zum Team der beiden Integrativgruppen.
„Die heilpädagogische Arbeit hat zum Ziel, die Defizite des Kindes auszugleichen und damit bestmögliche Entwicklungs- und Bildungschancen zu gewährleisten. Wir arbeiten mit den Stärken der Kinder, beziehen das Umfeld mit ein und stimmen die Ziele mit den Eltern ab. Doch bevor ein Kind offiziell als ein sogenanntes Integrationskind anerkannt wird, muss es lange Wege durchschreiten“, erzählt Simone Scholz. „Wenn die Erzieherinnen Verhaltensauffälligkeiten bei einem Kind feststellen, werden als erstes die Eltern angesprochen. Wir bitten sie dann, einen Kinderarzt aufzusuchen, der sie bei Bedarf an einen Psychologen überweist. Dieser erstellt ein Gutachten, welches vom Sozialamt geprüft wird. Erst wenn das Amt den Antrag auf sonderpädagogischen Förderbedarf bestätigt hat, ein Förderplan von den Pädagogen, der Einrichtungsleitung und den Eltern erarbeitet und vom Amt bestätigt wurde, steht einer speziellen Förderung nichts mehr im Wege“, beschreibt die Heilpädagogin den bürokratischen Aufwand. Manchmal müssen die Eltern erst davon überzeugt werden, dass diese Form der Betreuung besser für das Kind ist. Derzeit gibt es drei bestätigte Integrationskinder in der Einrichtung.
Doch nicht immer sei die Einstufung als Integrationskind die richtige Lösung. Das müsse individuell, von Fall zu Fall entschieden werden. Dorothea Geyler erinnert sich: „In meiner Gruppe gab es vor einigen Jahren ein Mädchen, welches in verschiedenen Bereichen auffällig war und die Möglichkeit gehabt hätte, in eine Integrationsgruppe zu gehen. Gemeinsam mit den Eltern und unserer damaligen Leiterin beschlossen wir aber, dass das Kind in meiner Gruppe bleibt. Die anderen Kinder haben das Mädchen außerordentlich mitgezogen, sie waren Vorbilder für sie und sie lernte von ihnen, schaute sich Dinge ab. Schnell holte sie damals ihre Defizite auf und das ohne eine spezielle Förderung. Es ist toll, mitzuerleben, wie sich diese Kinder entwickeln.“ Die nichtbehinderten Kinder lernen zudem im Gegenzug, was es heißt, tolerant zu sein und auf Rücksichtnahme zu achten. Nicht gegeneinander, sondern miteinander ist das Motto der Kindertagesstätte.
In vielen Fällen sei aber eine sonderpädagogische Förderung notwendig. Vor allem bei Kindern, bei denen mehrere Defizite gleichzeitig auftreten. Entwicklungsverzögerungen, wie die sprachliche, motorische sowie geistige und soziale Entwicklung, können hier sehr häufig beobachtet werden.
Bei diesen Kindern wird versucht, die für das Kind belastenden Verhaltensweisen abzubauen und nicht vorhandenes Verhalten aufzubauen. Beispiele dafür können sein: die Stärkung der Persönlichkeit, das Fördern der Eigeninitiative und Kreativität, das Erlernen und Einhalten von Regeln und Grenzen sowie die Verbesserung der Sprachkompetenz.
Simone Scholz und ihren Kolleginnen ist es wichtig, dass diese Kinder eine Chance erhalten, eine Chance auf Bildung, eine Chance auf Gleichheit. Das Besondere an dieser Kindertagesstätte ist, dass diese Kinder eben nicht gesondert betreut, sondern in eine Gruppe mit Kindern ohne Entwicklungsverzwögerungen oder Behinderungen integriert werden. Hier nehmen sie an den gleichen Lernangeboten wie ihre Spielkameraden teil, malen, singen oder basteln zusammen. Die Heilpädagoginnen bzw. Heilerziehungspflegerin nehmen sich für die Integrativkinder jedoch besonders viel Zeit. In Einzelangeboten können zusätzlich individuelle Betreuungen durchgeführt werden. Dann ziehen sie sich gemeinsam mit dem Kind in den Snoezelraum, den Turnraum oder in ein Gruppenzimmer zurück. Hier können die Integrationskinder ganz sie selbst sein und erzählen, Dinge wiederholen und vertiefen, Übungen zur Hand-Augen-Koordination durchführen. All das, was in der Gruppe in dieser Art nicht möglich ist. Zusätzlich kommen Logopäden und Psychologen in die Einrichtung, um weitere spezielle Förderungen anzubieten und durchzuführen. Aber auch die Eltern sind angehalten, regelmäßige Angebote außerhalb der Kindertagesstätte in Anspruch zu nehmen. Nach einem Jahr gibt es eine Auswertung des Förderplans. Wurden die Ziele erreicht? Wo steht das Kind heute? Die Beurteilung wird im Anschluss an das Amt geschickt und ein neuer Antrag auf Genehmigung sonderpädagogischer Förderung gestellt.
Simone Scholz erzählt, dass sie ein Kind betreut, welches zu seiner Geburt nur 750 g gewogen hat. Dank der Einstufung als Integrationskind und der damit verbundenen Sonderförderung ist es heute kaum von anderen zu unterscheiden. Es hat alle Defizite ausgeglichen und führt ein ganz normales Leben. Diese Entwicklungen und Glücksmomente machen den Beruf der Heilpädagoginnen und der Heilerziehungspflegerin aus. Doch auch sie stoßen manchmal an ihre Grenzen. Zum Beispiel beim Umgang mit den Behörden, bei dem gelegentlich der Eindruck entstehe, dass Paragraphen und nicht mehr das Wohl des Kindes im Vordergrund steht. Der Weg, ein bestätigtes Integrationskind zu werden, kann sehr lang sein. Doch er lohnt sich. Denn eine Chance hat jeder verdient.
*Name geändert