Menschenwürde statt Profitmaximierung

Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gilt für alle. Daran erinnerte Prof. Dr. Birgit Mahnkopf am 18. Februar in Berlin. Doch die Bundesrepublik sei „sehr weit entfernt“ davon, dass alle Menschen selbstbestimmt und menschenwürdig leben können, kritisierte die Sozialwissenschaftlerin. Sie sprach auf der ersten Fachtagung  des „Bündnisses für ein menschenwürdiges Existenzminimum“, einem Zusammenschluss von Erwerbsloseninitiativen, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften. Die Volkssolidarität wirkt darin aktiv mit. „Ein menschenwürdiges Leben kommt nicht von allein“, so das Motto der Veranstaltung. Das Bündnis hatte zuvor ein Positionspapier veröffentlicht: „Ein menschenwürdiges Leben für alle – das Existenzminimum muss dringend angehoben werden!“

Diese Forderung sei gerechtfertigt, sagte Birgit Mahnkopf. Es gebe eine „skandalöse Lücke“ zwischen den Lebenshaltungskosten und dem „mit fragwürdigen Mitteln“ festgelegten Regelsatz für „Hartz IV“-Leistungen und die Grundsicherung. Die Wissenschaftlerin begrüßte, dass in dem Positionspapier nicht zwischen sozialen und ökologischen Fragen getrennt, sondern im Gegenteil der Zusammenhang von beidem klargestellt werde. Der politisch geförderte Sozialabbau stehe im Widerspruch zu der eingeforderten sozial-ökologischen Wende. „Menschen, die vom Regelsatz leben müssen, können sich eine ökologische Lebensweise nicht leisten“, so Birgit Mahn­kopf. Für sie enthält das Papier „viele Forderungen, die breite gesellschaftliche Unterstützung verdient haben“. Dazu gehöre auch die nach dem Ausbau der sozialen Infrastruktur mit guten Dienstleistungen für alle Bürger. Die Wissenschaftlerin sprach sich für einen „großen öffentlichen Sektor“ aus. Der müsse Bereiche wie die Wasser- und Energieversorgung ebenso umfassen wie den öffentlichen Verkehr, die Kultur, die Bildung und das Wohnen. Er dürfe nicht auf Profitmaximierung, sondern an dem Nutzen für die gesamte Gesellschaft orientiert sein. Der freie Zugang für alle zu guten öffentlichen Dienstleistungen sorge für Teilhabe und Integration und bewirke zugleich eine nachhaltige Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

„Solange es keine kostenfreie soziale Infrastruktur gibt, müssen die Kosten für Mobilität in den Regelsatz aufgenommen werden.“ Das forderte Mitinitiator Guido Grüner von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V. (ALSO). Er wandte sich gegen die „Lebenslüge der deutschen Sozialpolitik“, nach der die Grundsicherung nur für eine Übergangszeit diene. Viele Betroffene seien dauerhaft darauf angewiesen, entweder weil sie nicht arbeiten können oder weil sie langzeitarbeitslos sind. Guido Grüner bezeichnete es als Frechheit von der Regierung, den Regelsatz nach dem Bundesverfassungsurteil 2010 nur um fünf Euro zu erhöhen. So etwas dürfe nicht mehr durchkommen, sagte er und sprach sich dafür aus, dass sich die Verbände, Organisationen gemeinsam wehren und konkrete Handlungsvorschläge machen. Mehr Solidarität sei notwendig, stellte auch Michaela Hoffmann klar. Sie vertritt die Caritas in der Nationalen Armutskonferenz. Die Grundsicherung sei sozial ungerecht und undemokratisch, stellte sie fest. Michaela Hoffmann verwies auf ungerechte Regelsätze, einseitiges Fordern statt Fördern und den Zwang für Jugendliche, bis 25 bei den Eltern wohnen zu müssen. Dazu gehöre auch, wenn Leistungsbezieher auf Tafel und Suppenküchen verwiesen werden und die noch niedrigeren Regelsätze für Asylbewerber.

Wie das in der Politik gesehen wird, zeigte sich in der Abschlussrunde der Tagung. Da trafen Vertreter aller fünf im Bundestag vertretenen Parteien auf jene, die zum Teil selber betroffen sind und sich für bessere Lebensbedingungen engagieren. Für Johannes Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion ist die Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 2010 ausreichend und angemessen. „Ich weiß, dass vom Regelsatz zu leben, keine Freude ist.“ Aber es handele sich ja auch nur um eine Grundsicherung, so der Abgeordnete. Katja Kipping von der Linksfraktion im Bundestag verwies darauf, wie Fraktion und Partei Die Linke sich für einen höheren Regelsatz stark machten und machen. Um einen solchen zu finanzieren, setze ihre Partei sich für eine stärkere Besteuerung von Vermögen und dafür ein, den Spitzensteuersatz aus der Regierungszeit von Helmut Kohl in Höhe von 53 Prozent wiedereinzuführen. Es gehe aber auch darum, soziale Leistungen und Angebote bis hin zur Bildung besser zu finanzieren. Ähnlich, aber weitaus unkonkreter klang es zuvor bei Josip Juratovic aus der SPD-Bundestagsfraktion. Er bezeichnete die Regelsätze auch als zu niedrig und meinte, dass angesichts der hohen Zahl von Klagen und Widersprüchen gegen „Hartz IV“-Bescheide „etwas im System nicht stimmt“. Dennoch konnte der Sozialdemokrat „nicht behaupten, dass wir sofort alles anders machen“. Brigitte Pothmer von der Grünen-Fraktion würde das am liebsten machen und übernahm auch Verantwortung für die unsozialen Entscheidungen aus der rot-grünen Regierungszeit. Der FDP-Abgeordnete Pascal Kober wandte sich dagegen, die Betroffenen zum Beispiel in die Beratungen und Entscheidungen zum Regelsatz einzubeziehen. Da müssten ja am Ende alle gefragt werden, aber dafür gebe es die parlamentarische Vertretung wie den Bundestag. In diesem sitzen aber keine Menschen, die vom Regelsatz leben mussten oder leben, und selbst Arbeiter sind kaum dabei, vergaß der Liberale zu erwähnen.

Vor der Politikerrunde hatten sich die Tagungsteilnehmer in fünf Workshops getroffen. Dabei wurden nicht nur die Lage und die Probleme beschrieben, sondern auch Auswege und Alternativen gesucht. Wie breit das Spektrum ist, zeigte u.a. Johanna Böse-Hantje von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e. V. Sie machte die Folgen des „Hartz IV“-Systems für die Landwirtschaft deutlich: „Die Menschen müssen sich gute hochwertige Ernährung leisten können.“ Wenn 30 Prozent der Bevölkerung bei Billig-Discountern einkaufen, steige der Druck auf die Bauern immer billiger zu produzieren. Es gehe nur noch um Kostensenkung, was auch negative Folgen für den Tier-, den Umwelt- und den Verbraucherschutz habe. Auf die Folgen der sozialen Entwicklung für die Regionen machte Dr. Rudolf Martens vom Paritätischen Wohlfahrtsverband gemeinsam mit Ottmar Illchmann, ebenfalls von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V., aufmerksam. Das reiche von der Abhängigkeit der Landwirte von den EU-Subventionen bis hin zu der Abwärtsspirale, dass arme Menschen in armen Regionen leben. Die enormen Zuwächse in der Wirtschaftsleistung kämen nicht bei den abhängig Beschäftigten und den anderen an, so Rudolf Martens. „Wir müssen die primäre Verteilung ändern, sonst ändern wir diese Missstände nicht.“ Wie konkret diese sind, zeigte Dr. Alfred Spieler vom Bundesverband der Volkssolidarität am Beispiel der Kosten für Gesundheit. Er verwies darauf, dass im „Hartz IV“-Regelsatz monatlich 16,42 Euro für Gesundheitsausgaben vorgesehen seien. Doch schon bei einer Erkältung zeige sich, dass das nicht ausreicht, wenn schon Hustensaft die Hälfte des Betrages ausmache und alle Medikamente selbst bezahlt werden müssen. Alfred Spieler forderte, zur Regelung zurückzukehren die bis 2005 bei der Sozialhilfe galt. Bis dahin übernahm die Gesetzliche Krankenversicherung die Behandlungskosten für die Sozialhilfeempfänger. Eine solche Rückkehr „stünde der Solidargemeinschaft gut zu Gesicht“, meinte der Vertreter der Volkssolidarität.

Weitere Informationen zur Tagung finden Sie auf der Homepage des „Bündnisses für ein menschenwürdiges Existenzminimum“: www.menschenwuerdiges-existenzminimum.org .

aus VS Aktuell 1/2013, erschienen im  VS Aktuell   VS Aktuell 1/2013