Am 30. Juli 2013 verabschiedete das Sächsische Staatsministerium für Kultus die Richtlinie zur Verbesserung der Bildungschancen für Kinder durch pädagogische Unterstützung in Kindertageseinrichtungen (RL Bildungschancen). Diese regelt die Gewährung von Mitteln für zusätzliches Personal in Kindertagesstätten, die „einen besonders hohen Anteil von Kindern, die von sozialer Benachteiligung betroffen oder davon bedroht sind und infolge dessen spezialisierter Angebote und Leistungen bedürfen.“ (Quelle: Sächsisches Amtsblatt, Nr. 33 vom 15.8.2013, S. 804)
Die Kindertagesstätte Sonnenbergstrolche gehört zu den wenigen Einrichtungen in Chemnitz, die von dieser Richtlinie profitieren. Seit wann ist bei Ihnen zusätzliches Personal tätig?
Seit Dezember 2013 wird das Team durch vier (z. Zt. 2) Erzieherinnen verstärkt, welche für zwei Jahre die Fachkräfte in ihrem pädagogischen Alltag unterstützen und den Kindern mit Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten sowie deren Familien behilflich sind. Unsere Einrichtung ist eine der 6 von 139 Kitas in Chemnitz, auf die die Richtlinie Anwendung findet.
Wieviel Kinder werden bei den Sonnenbergstrolchen betreut und wieviel kommen aus sozial benachteiligten Familien?
Zurzeit betreuen wir 175 Kinder. Davon beziehen 105 Kinder, also mehr als 50%, das Bildungspaket.
Diese Kinder zeigen überwiegend Verhaltensauffälligkeiten. Aber wir betreuen ebenso eine Anzahl von Kindern mit Sprachauffälligkeiten, die nicht nur aus Migranten-, sondern auch aus deutschen Familien kommen.
Was ist außerdem anders als in einer „normalen“ Kita?
Zum Beispiel kommen zu uns regelmäßig Therapeuten oder Lehrer zum Hospitieren, um sich die Kinder vor Ort anzuschauen und entsprechende Gespräche mit den Erzieherinnen zu führen.
Der Betreuungsaufwand ist wesentlich höher. Wir haben Kinder bei uns, mit denen wir täglich oder wenigstens wöchentlich wieder ganz vorn anfangen müssen, sie in den Alltag zu führen, da es bei ihnen zu Hause keine festen Regeln gibt.
Die Gespräche mit manchen der Mütter und Väter sind schwierig und müssen mit Toleranz, Nachsicht und vor allem mit viel Einfühlungsvermögen geführt werden, was oftmals sehr kräftezehrend ist.
Was bedeutet das Bildungspaket für Ihre Einrichtung?
Einfach mehr Zeit. Mehr Zeit für die Kinder, aber ebenso mehr Zeit für die Mitarbeiter. Zum Beispiel können jetzt Unternehmungen in der gesamten Gruppe durchgeführt werden, weil eine zweite Mitarbeiterin zur Begleitung zur Verfügung steht: Ein Besuch im Puppentheater oder ein Ausflug in den Wald sind so kein Problem mehr. Möglich ist nun, dass eine Kollegin mit einem einzelnen Kind mal in den Snoezelraum gehen und so die Körperwahrnehmung intensiver fördern kann. So können z. B. Entspannungstechniken erworben werden. Wir bieten nun auch Angebote für einzelne Kinder an, wo sie nach ihrem individuellen Rhythmus teilnehmen und dann sogar über sich hinauswachsen können, ohne Stress oder von der Gruppe gedrängt zu werden. Einer unserer Schützlinge leidet z. B. stark an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Ihm und anderen Kindern wird jetzt eine noch flexiblere und intensivere Betreuung zuteil. In der täglichen Arbeit, die oft sehr viel von den Kolleginnen fordert, sind Zwischenpausen möglich, die zur psychischen Entlastung dienen. Ein paar Minuten einfach mal Runterfahren macht sich positiv bemerkbar. Außerdem haben die Kolleginnen nun Zeit, den anfallenden „Schriftkram“ zu erledigen, was früher oft nur in ihrer Freizeit möglich war.
Wie sieht konkret die Unterstützung der betroffenen Familien aus?
Es gibt bei uns Beratungsangebote, die sich an alle Familien richten. Sie bewegen sich außerhalb des Bereiches Kindererziehung. Die Angebote betreffen, mal so gesagt, alle Fragen rund um das tägliche Leben. Es geht darum, was für diese Familien wichtig ist: Wo gibt es kostengünstige Freizeitangebote? Welche Ärzte und Therapieeinrichtungen gibt es in der Nähe? Ebenso können sich die Eltern über Möglichkeiten der künftigen Schulausbildung des Kindes informieren. Nebenbei bemerkt, durch die Maßnahme Bildungschancen entstehen ihnen keinerlei zusätzliche Kosten. Das spielt natürlich für viele eine große Rolle.
Wir freuen uns, seit April dieses Jahres jeden Dienstag eine kostenfreie Elternberatung anbieten zu können. Sie liegt in der Abholzeit am Nachmittag und kann von allen Eltern genutzt werden. Dies ist erst durch das Projekt möglich geworden und wir hoffen, dass es in Zukunft von mehr Eltern genutzt wird .
Wie schätzen Sie und ihre Kolleginnen den bisherigen Verlauf des Projektes ein?
Durchweg positiv. Die jungen Frauen fühlen sich mit dieser Aufgabe bestätigt, fühlen sich als Erzieherinnen. Unsere „Mädels“ sind gut von unserem Team aufgenommen worden.
Wie wurde das Projekt von den eigentlichen Hauptpersonen angenommen?
Am Anfang wurden, wie es die Art von Kindern ist, die Neuen erstmal „ausgetestet“. Das gehört nun mal dazu. Aber wir haben unsere jungen Kolleginnen zu Beginn nie allein in einer Gruppe arbeiten lassen. Mittlerweile haben sie gelernt, sich gut zu behaupten. Die Kinder haben sie akzeptiert und machten schon bald keine Unterschiede zwischen den neuen Kolleginnen und unserem Personal.
Wir planten, welche Kollegin für welche Gruppe zuständig ist, damit es für die Kinder eine feste Bezugsperson gab. Das ist für die Kinder ebenso notwendig wie klare Regeln.
Neben dem bereits angesprochen größeren Zeitbudget konnten wir eine Wachgruppe schaffen. In dieser sind Kinder, die keinen Mittagsschlaf machen wollen oder können. Der Mittagsschlaf ist von 12:00 bis 14:00 Uhr. Die Wachkinder legen sich ebenfalls 12:00 Uhr hin, um etwas zur Ruhe zu kommen und zu entspannen, dürfen bereits 13:00 Uhr wieder aufstehen. Die Kinder gehen dann mit der Erzieherin in die Turnhalle.
In der Richtlinie ist zu lesen, der Bewilligungszeitraum für Erstempfänger beläuft sich bis zum 31.12.2015. Wie geht es dann weiter?
Das Projekt wird über die zwei Jahre laufen, für unsere neuen Kolleginnen heißt das bis 30.11.2015. Wenn unsererseits die Möglichkeit bestehen sollte, werden wir bestrebt sein, sie bei uns weiter zu beschäftigen.
Durch die RL Bildungschancen ergaben sich für unsere Einrichtung bisher nur positive Aspekte, sodass von Landesseite unbedingt über eine Weiterführung nachgedacht werden muss und dies auch anderen gewährt werden sollte.
Was müsste aus ihrer Sicht noch verbessert werden?
Die mit dem Projekt verbundenen Weiterbildungskosten schließt die Richtlinie nicht ein. Sie müssen von den Einrichtungen getragen werden. Hier wäre eine Förderung angebracht. Dazu fehlt es in dem Papier an konkreten Aussagen, welche Tätigkeiten die Mitarbeiter ausüben dürfen, welche nicht. Wir haben uns dazu intern geeinigt.
So gut, wie sich das Projekt bewährt hat, müssten eigentlich alle Kindereinrichtungen davon profitieren können. Zudem bestätigte sich erneut: In Sachsen ist dringend ein neuer Personalschlüssel für die Kinderbetreuung notwendig.