„Mit zehn bis zwölf gefüllten Aluminiumbehältern im Gepäck sind wir durch die Stadt zu den Senioren gelaufen. Zwei bis drei Stunden waren wir unterwegs, damit sie ein warmes Mittagessen auf den Tisch bekommen. Eine schwere Arbeit, aber sie hat viel Spaß gemacht“, erinnert sich Marina Müller. Die heutige Leiterin der Sozialstation Scheffelstraße und Fachgebietsleiterin für Ambulante Pflege kam 1985 zur Volkssolidarität, um als Brigadierin für Hauswirtschaft unter anderem die Essenversorgung für ältere Menschen zu koordinieren und zu kontrollieren. Sie sammelte Essengelder ein und ging selbst mit den Behältern durch den Stadtteil Kappel und das Gebiet des ehemaligen Flughafens. Die Geschäftsstelle war damals noch in der Horst-Menzel-Straße auf dem Kaßberg. „Einen Tag in der Woche waren die Brigadiere dort im Büro, vier Tage sind wir in die verschiedenen Stadtteile gegangen und haben ältere Menschen aufgesucht, um zu erfahren, was sie benötigen. Das Reinigen der Wohnungen und die Versorgung mit Essen waren die Leistungen der Volkssolidarität. Die Pflege lag damals noch in der Hand der Gemeindeschwestern.“
Die Versorgung mit Mittagessen erfolgte über Essenstützpunkte, die auf die Stadtbezirke des damaligen Karl-Marx-Stadt verteilt waren. Für Kappel befand sich dieser in einem Klub der Nationalen Front in der Horststraße 11, der nach der Wende von der Volkssolidarität übernommen wurde und heute eine Begegnungsstätte in einer Wohnanlage für Betreutes Wohnen ist. In einigen altersgerechten Wohnhäusern gab es zudem eigene Essenstützpunkte. „Hier bekamen wir von den Mietern Töpfe und Schüsseln, die wir befüllten und wieder zurückbrachten. Es gab eigens dafür Auftragsscheine mit dem Namen und allen wichtigen Daten, die die Grundlage für den Lohn bildeten. Viele Rentner konnten sich durch das Austragen des Mittagessens etwas dazuverdienen. Die Essensverteilung war sehr gut geregelt und wurde von der Stadt bezahlt.“
Das änderte sich mit der Wende. Die Stadtbezirke wurden aufgelöst, der Stadtverband der Volkssolidarität gegründet und drei Sozialstationen nahmen ihre Arbeit auf. Die Ambulante Pflege wurde zu einem wichtigen Dienstleistungsangebot der Volkssolidarität. Die hauswirtschaftliche Betreuung und die Versorgung mit Essen wurden weiterhin angeboten und gut genutzt. „Das war aber immer noch kein ‚Essen auf Rädern‘, sondern nach wie vor ‚Essen auf Füßen‘“, schmunzelt Marina Müller. „Unser erstes Fahrzeug mussten wir genauso wie ordentliche Arbeitsmittel erst einmal selbst erwirtschaften.“ In der Scheffelstraße war das ein gebrauchter grüner Mazda, mit dem ein Zivildienstleistender u. a. die Schwestern zu den Betreuten fuhr. „In der DDR musste man gewöhnlich sehr lange auf einen Platz in einer Fahrschule warten. Daher hatten viele Kollegen kurz nach der Wende noch keinen Führerschein. Einen Trabant hatten wir auch in unserem kleinen Fuhrpark. Der wurde uns jedoch gestohlen, die Polizei fand ihn ausgebrannt im Stadtpark. Heute sind unsere Mitarbeiter mit modernen Fahrzeugen, auffällig beschriftet und mit sicherer Zentralverriegelung, in den Stadtteilen unterwegs. Und seit vielen Jahren ist das Essen tatsächlich auf Rädern unterwegs‚ nun jedoch in den Fahrzeugen unserer Zentralküche.“
1990 wurde das Mittagessen noch von einem Dienstleister gekocht, dann von diesem abgeholt und verteilt. Ab 1992 konnten die Essenteilnehmer zusätzlich aus 100 Tiefkühlmenüs auswählen, die einmal in der Woche nach Hause geliefert wurden. Ein elektrisches Aufwärmgerät sowie eine Kühlbox konnten vom Mahlzeitendienst der Volkssolidarität gegen eine geringe Gebühr ausgeliehen werden. 1994 wurde die erste Küche des Stadtverbandes im neu eröffneten Klub Semmelweißsstraße eingeweiht. Fünf Jahre später nahm die Zentralküche in der Zwickauer Straße 247a ihren Betrieb auf. Von dort aus werden nicht nur die Kunden des „Essens auf Rädern“ beliefert, sondern auch die Begegnungsstätten und Stadtteiltreffs, die Kindertagesstätten und die Seniorenpflegeheime des Stadtverbandes und seiner Tochterunternehmen.
Aufgrund einer Zwangsversteigerung hätte die Zentralküche schon wenige Jahre später wieder ausziehen müssen, was dem Stadtverband teuer zu stehen gekommen wäre, da eingebaute Küchentechnik nicht einfach mitgenommen werden kann. Es gelang, das ehemalige Fabrikgebäude zu erwerben und damit zudem wenig später der wichtigen Arbeit der Chemnitzer Tafel eine neue und moderne Wirkungsstätte zu geben. Einige Räume im Haus werden mittlerweile als Archiv genutzt. „Es ist gut, dass wir die Fläche haben“, sagt Martin Spur, Fachgebietsleiter Mahlzeitenversorgung und verantwortlich für das Gebäude. „Durch die stetig steigenden gesetzlichen Anforderungen kommt einiges an Papier zusammen, welches wir teilweise für sehr viele Jahre aufheben müssen. So verlangen die gesetzlichen Vorgaben und modernen Standards auch in unseren Küchen zahlreiche Protokolle.“
Neben der Zentralküche betreibt der Verein in den meisten Seniorenpflegeheimen der Tochterunternehmen noch einzelne Küchen. „Der Weg zu unseren Einrichtungen bspw. in Radebeul oder in Bayern wäre einfach zu weit, um dorthin noch ein warmes Mittagessen liefern zu können.“ Eine kurze Lieferzeit – oder in der Fachsprache Standzeit – ist eine gesetzliche Vorgabe, die die Zentralküche gerne und gut erfüllt. „In Verpackungen abgepacktes Essen verliert schnell den guten Geschmack sowie Vitamine und Mineralstoffe. Deshalb ist es wichtig, dass das Essen aus dem Kochtopf so schnell wie möglich zum Kunden und bei ihm auch auf den Tisch kommt.“
Eine Alternative ist das sogenannte „Cook and Chill“ (dt. „Kochen und Kühlen“). „Wir haben in den vergangenen Jahren nicht nur die Versorgung von anderen Vereinen übernommen, sondern zudem von einigen Asylbewerberheimen. Die dadurch stark gestiegene Portionszahl können wir nicht mehr auf einen Ritt kochen, abfüllen und ausliefern, vor allem, da wir ja für die Asylsuchenden religiöse Besonderheiten berücksichtigen und daher gesondert kochen. Bei ‚Cook and Chill‘ werden die Gerichte wie gewohnt gekocht und dann sehr schnell abgekühlt. Dadurch können sie bis zu vier Tage ohne Qualitätsverluste im Kühlhaus gelagert werden. Nach der Auslieferung werden sie vor Ort mit einem Dämpfer auf Verzehrtemperatur erwärmt und ausgegeben. Das Verfahren ermöglicht uns so bspw., dass das Essen für die Asylbewerberheime nachmittags gekocht und am nächsten Tag ausgeliefert und ausgegeben werden kann“, erklärt der Fachgebietsleiter. „Neu hinzugekommen ist eine sogenannte Kaltstrecke, in der die Kollegen warm in Wattejacken eingepackt Frühstück und Abendbrot für die Asylbewerberheime und zudem für einige Seniorenpflegeheime zubereiten.“
Auf das „Essen auf Füßen“ angesprochen, muss auch Martin Spur schmunzeln: „Vieles lässt sich nicht mehr vergleichen, nicht nur Alubehälter gibt‘s schon lange nicht mehr! Zum einen sind die hygienischen Ansprüche und Vorgaben ganz anders. Zum anderen setzten wir viel moderne Technik ein. Und das nicht nur beim Kochen, sondern bspw. auch bei der Bestellung von Lebensmitteln. Dazu nutzen wir eine Software, ein sogenanntes Warenwirtschaftssystem, in der viele Rezepte hinterlegt sind. Wählt ein Koch ein Gericht und die entsprechende Portionszahl aus, werden die Nahrungsmittel fast schon automatisch beim Handel bestellt. Hier setzen wir nicht nur auf den Großhandel, sondern auch auf kleinere Unternehmen aus der Region. So beziehen wir Brot- und Backwaren von einem Bäcker aus Augustusburg. Das Familienunternehmen verwendet Mehl aus der Region und setzt nicht auf Backmischungen, sondern stellt seine Produkte traditionell her. Molkereiprodukte beziehen wir von einer Plauener Molkerei, die von Landwirten aus dem Vogtland, Westsachsen und Ostthüringen mit Milch beliefert wird. Fleisch kaufen wir bei einem Betrieb aus Penig ein. Obst und Gemüse kommen von einem Großhändler in Meerane, der mit Agrargenossenschaften aus Ostdeutschland zusammenarbeitet. Der Einsatz von regionalen Produkten ist vielleicht eine Parallele zum Kochen in der DDR. Während es jedoch damals zwangsweise fast ausschließlich Lebensmittel aus der ostdeutschen Region gab, setzen wir heute bewusst darauf.“
„Das ‚Essen auf Rädern‘ ist nur eine Dienstleistung der Volkssolidarität Chemnitz, die seit der Wende eine rasante Entwicklung genommen hat“, sagt der Vorsitzende des Stadtverbandes Andreas Lasseck rückblickend. „Ein weiteres Beispiel ist die Pflege. Ganz gleich ob ambulant oder stationär – moderne Ansätze und wissenschaftliche Erkenntnisse sind hier in die tagtäglich fürsorgliche Arbeit unserer Kollegen eingeflossen, zugleich haben sich aber auch die Anforderungen der Behörden bspw. an die Dokumentation vergrößert. Ebenso hat sich in den Kindertagesstätten viel getan. Im Gegensatz zum staatlich geregelten System in der DDR können wir heute alternative pädagogische Konzepte zum Wohle der Kinder und ihrer Entwicklung umsetzen. Der Freistaat Sachsen hat einen zukunftsweisenden Bildungsplan erstellt und die Einrichtungen mit der Umsetzung beauftragt, leider ohne dabei zu beachten, dass dafür mehr Zeit und damit mehr Personal benötigt wird, für das er finanzielle Mittel bereitstellen müsste. Das sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass die Volkssolidarität ein moderner und fortschrittlicher sozialer Dienstleister ist, es lassen sich noch zahlreiche mehr finden. Allen gleich ist jedoch, dass die Betreuten, ob jung oder alt, im Mittelpunkt der täglichen Arbeit unserer Kollegen stehen – getreu dem Motto der Volkssolidarität: Miteinander – füreinander – Solidarität leben.“