Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen (LIGA) luden in der Woche vom 21. bis 25. August 2017 zur Aktion „Perspektivwechsel“ ein. In diesem Jahr erhielten Politiker sowie Vertreter der Krankenkassen, der Medien und der Wirtschaft die Möglichkeit, einen Tag in einer der Pflegeeinrichtungen mitzuerleben, ins Gespräch zu kommen und Anliegen der Betreffenden entgegenzunehmen und weiterzutragen.
Der Chemnitzer Stadtrat Jörg Hopperdietzel (LINKE) begleitete am 24. August Mitarbeiter der Sozialstation Scheffelstraße bei der ambulanten Tagesbetreuung von an Demenz erkrankten Menschen. Im Kleinbus kam er bei der Abholung der Betreuten schnell mit diesen ins Gespräch und weckte dabei großes Interesse, als er von seiner Arbeit als Polizeibeamter berichtete. Ein ganz normaler Tag für die Mitarbeiter der Sozialstation – ein Tag aus einer neuen Perspektive für Jörg Hopperdietzel.
Im anschließenden Gespräch mit Marina Müller, Fachgebietsleiterin Ambulante Pflege und Leiterin der Sozialstation, tauschten sich beide zur ambulanten Pflege und über grundlegende Probleme der Pflegebranche aus. Dabei wären dem Stadtrat die Forderungen der sich engagierenden Wohlfahrtsvereine und -verbände bekannt und er stimme zu, dass der Pflegeberuf mehr Anerkennung in der Öffentlichkeit und der Politik erhalten müsse. Die Politik sei aufgefordert, entsprechende Bedingungen auf kommunaler und Landesebene zu schaffen. Dafür wolle er sich einsetzen. Er sprach seine große Wertschätzung gegenüber den Menschen, die in diesen Bereich Großes leisten, und speziell für die Arbeit der Kollegen in der Sozialstation Scheffelstraße aus, die er hautnah erleben und begleiten durfte.
Stadrat Jörg Hopperdietzel berichtet über seinen „Perspektivwechsel“-Tag
Um 09:00 Uhr wollte ich in der Sozialstation Scheffelstraße sein und schaffte es mit drei Minuten Verspätung fast pünktlich. Meine „Lehrpflegerin“ wartete bereits ungeduldig. Nach einem kurzen Fototermin ging es sofort los, um Senioren, welche an Demenz erkrankten, von zu Hause abzuholen und zur Tagesbetreuung in der Sozialstation zu bringen.
Auf der Fahrt erklärte mir Antje Helbig, wie wichtig es für die Senioren sei, zu festen Zeiten abgeholt zu werden, da Verzögerungen und Abweichungen im Alltag sie verunsichern würden. Im Wohngebiet war es oft nicht einfach, einen Parkplatz in der Nähe des Hauseinganges zu finden. Die Senioren, welche wir abholten, sind hochbetagt und in der Beweglichkeit eingeschränkt. Weite Wege bis zum Bus der Volkssolidarität sind ihnen nur schwer möglich. Antje Helbig erzählte mir während der Fahrt, dass es immer mal wieder Autofahrer gibt, welche schimpfen und unsachlich werden, nur weil der kleine VOSI-Bus in zweiter Reihe hält und es dadurch noch enger als sonst auf der Straße zugeht. Einige drohen sogar mit der Polizei. Naja, wenigstens die wäre ja heute schon sofort vor Ort gewesen, bemerkte ich beiläufig und wundere mich über solch Unverständnis. Der Stopp vor den Häusern dauert kaum fünf Minuten, die Senioren stehen meist schon fertig an der Tür und warten. Soviel Mitgefühl sollten wir den älteren Menschen entgegenbringen und einfach mal den Moment entspannt warten, bis der Bus weiterfährt. Nicht zu vergessen: Wir alle kommen, so wir nicht jung sterben, dahin, dass wir Hilfe benötigen und eingeschränkt sein werden.
Der Bus füllte sich mit Senioren, jeder mit Einschränkungen und einer eigenen Art. Da gibt es Ängstliche, welche ganz viel Zuwendung benötigen, jemanden, der ständig vergisst, dass er schon auf der Toilette war, und versucht, permanent zu einem Baum oder Busch zu laufen, um sich zu erleichtern. Ich ziehe meinen Hut vor der Leistung der Pflegerin – für jeden ein nettes Wort, die Busbesetzung durchgeplant und sicher durch den Verkehr.
In der Sozialstation erlebte ich als Gast einen Haustag. Mit Fotoalben wurde mir gezeigt, welche Ausflüge die Senioren bereits unternahmen. Sehr liebevoll ermöglichen ihnen die Mitarbeiterinnen Antje Helbig und Annett Kallweit eine selbstbestimmte Freizeit mit vielen Anregungen. Kleine Denkaufgaben ziehen sich durch den Tagesablauf, um der Demenz entgegenzuwirken.
Als Gast vom Stadtrat wurde ich vorgestellt, meinen Namen kann sich eh keiner merken. Da ich vom Stadtrat bin, könne ich doch sicher etwas zur Entwicklung auf dem Brühl erzählen, fragte eine Seniorin, sie erinnere sich noch gut an den Brühl. Sie erzählte aus der Zeit des Brühls um 1920, als wäre das erst gestern gewesen. An unmenschliche Wohnverhältnisse erinnerte sie sich. Ich berichtete gern von den Entwicklungen auf dem Brühl, vom jungen Wohnen, von kulturellen Projekten. Die Senioren hörten kurz zu und ich merkte, nach wenigen Minuten sind sie wieder in ihrer Welt.
Die beiden Mitarbeiterinnen motivieren die Senioren immer auf‘s Neue, gehen mit ihnen spazieren und auch da sind zwei Pflegerinnen mit den Senioren eigentlich eine zu wenig. Es müssen Rollstühle geschoben, Senioren gestützt und jener mit Toilettendrang immer wieder „eingefangen“ werden. Die Pflegerinnen haben scheinbar ihre Augen überall, reagieren sofort und geleiten die kleine Gruppe sicher zurück in die Sozialstation.
Ich stellte fest, dass Bänke für die Senioren im Wohngebiet fehlen. Einige schaffen vielleicht 100 Meter am Stück, dann müssen sie sich kurz ausruhen. Eine Seniorin, sie wohnt gleich im Heckert-Gebiet, erzählte uns, dass es ja bei ihr ein paar Bänke gibt. Auf denen sitzen meist junge Leute und die machen keinen Platz, wenn die betagte Dame kommt. Sie muss sich dann immer auf einen Stein setzen, um kurz auszuruhen. Ich werde mit der WG Einheit und den Wahlkreisabgeordneten sprechen, wie wir mehr Bänke aufstellen können. Mobilität im hohen Alter ist auch für uns wichtig.
Ich erhielt sehr offen Einblicke in die Arbeit der Sozialstation, in die Reibungspunkte zwischen Pflegedienst und Rettungsdienst, in die Wohnverhältnisse der Senioren und viele Leistungen, die möglich sind, wenn sich ein Kostenträger dafür findet.
Sehr dankbar für die täglich geleistete Arbeit in der Sozialstation und für das Engagement ihrer „Besatzung“ habe ich bleibende Eindrücke sammeln können und vielleicht werden ja zwei kleine Projekte daraus entstehen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen,