Ein Fenster zur Sonne

Bis zu meinem Besuch des ostslowakischen Bezirkes im Spätsommer 1977 war die Hohe Tatra für mich, wie für viele Touristen, einfach nur ein attraktives Reiseziel. Ich hatte mich zuvor über das relativ kleine Hochgebirge ein bisschen informiert. So wusste ich, dass der Gerlach mit seinen 2.655 Metern überm Meeresspiegel der höchste und die Lomnitzer Spitze mit 2.632 Metern der zweithöchste Gipfel ist. Angemeldet hatte ich mich beim Astronomischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften von Tatranska Lomnica. Ich wollte erfahren, was Sternenforscher an dieser wilden, etwas abgelegenen Gebirgswelt reizt, wieso sie gerade von da aus ins All blicken. Darüber klärte mich die damalige Institutsdirektorin, Dr. Ljudmila Pajdušakova, eine verdienstvolle Wissenschaftlerin, Anfang 60, ausführlich auf. Sie selbst hatte bereits einige Kometen entdeckt, die nach ihr benannt worden sind. 

Im Hauptgebäude des Instituts über dem Skalnate Pleso, dem Felsensee, zeigte sie mir unter anderem ein Teleskop mittlerer Größe mit einem Spiegeldurchschnitt von 60 cm sowie ein automatisches System weiterer Apparaturen, die das Licht von unvorstellbar weit entfernten Welten erfassen. „Das sind einzigartige Informationen über deren Existenz“, erklärte sie. Dann kamen wir zum Spezialgebiet des Instituts, der Sonnenastronomie. Dazu wies die Direktorin auf Koronografen und andere Geräte, mit denen die Photosphäre der Sonne beobachtet und fotografiert wird. „Jede zur Beobachtung unseres Lebenssterns nutzbare Stunde ist unersetzbar“, sagte sie. So haben die Forscher Protuberanzen fotografisch festgehalten. Das sind gewaltige Gasexplosionen, die aus dem Sonneninnern ins Weltall hinausgeschleudert werden. Die vom Institut in der Hohen Tatra regelmäßig aufgenommene Protuberanz, die in bestimmten Abständen gleichartig wiederkehrt, haben die Wissenschaftler „Sperling“ genannt. Sie hat ungefähr die Gestalt dieses Vögelchens. 

Nach diesen ersten Erläuterungen lud mich die Direktorin ein, mit ihr zum zweiten Institutsbereich, hinauf zur Lomnitzer Spitze zu fahren. Das erhöhte meine innere Spannung. Wir begaben uns zum „Enzian“, einer Seilbahn-Zwischenstation von Tatranska Lomnica zum Gipfel. Von hier aus waren knapp 1 900 Meter mit einer 15-Personen-Gondel zu überwinden. Der Höhenunterschied vom „Enzian“ bis zur Bergspitze beträgt 898 Meter, und  nur ein einziger Pfeiler, kurz vor dem Gipfel, hält das Ganze. Angst hatte ich zwar keine, aber die steile Auffahrt nötigte mir schon gehörigen Respekt ab. Ebenso die Kletterer, die wir von der Gondel aus in der Felswand sahen. Sie wollten offenbar den gewaltigen Berg mit eigener Körperkraft und viel Geschick bezwingen.

Auf der Spitze angekommen, verwies Direktorin Pajdušakova darauf, das von dem hier befindlichen Teil des Observatoriums das Glasauge eines speziellen, großen Koronografen ununterbrochen auf die Sonne gerichtet ist. Das ermögliche die ständige Beobachtung der aus heißem Plasma zusammengesetzten Korona. „Die Sonne hat doch großen Einfluss auf alles Geschehen bei uns, auf die Ionosphäre, die Atmosphäre, auf alles Lebendige. Die Erkenntnisse, die wir von hier aus gewinnen, bereichern unter anderem Meteorologie, Radiotechnik, Biologie und Medizin“, erklärte meine Gesprächspartnerin. Und mit einem verschmitzten Lächeln bemerkte sie: „Hier oben bin ich die höchste Direktorin der Tschechoslowakei.“

Sie widmete sich dann ihren Tagesaufgaben und der von ihr beauftragte Elektronikingenieur Milan Minarovjech (damals 32 Jahre) über-nahm die weitere Führung auf dem Gipfel. Der dortige Teil des Instituts ist von 1955  bis 1960 an die Bergstation der Seilbahn angebaut worden. Seine Fundamente sind bis zu sieben Meter tief im Granit  verankert. Die Stärke der Mauern entspricht etwa der Armlänge eines erwachsenen Mannes. Wären da nicht die mattsilbern glänzende Kuppel und die zwei oben herausragenden Türme für Beobachtungen und Messungen, könnte man den Bau für eine mittelalterliche Festung halten. Seine gewaltige Stärke hat natürlich einen Sinn, denn in dieser Höhe muss er Windstürmen zwischen 250 und 280 km/h trotzen. Im September sei hier auch oft schon Winter, der bis in den Mai dauert, sagte mir Milan. Aber gerade die dünne und reine Atmosphäre hier oben sei besonders gut für  eine ungestörte Erforschung kosmischer Strahlungen. Der Ingenieur gehörte zu einer Gruppe von damals acht Forschern, die auf der Spitze arbeiteten. Das waren Astronomen, Experimentalphysiker und Meteorologen. Die Physiker hatten sich der Korpuskularstrahlung aus dem Kosmos zu widmen, wie Milan erwähnte. Diese Strahlung wurde von im Freien befindlichen Detektoren registriert. Die acht Männer waren eine verschworene Gemeinschaft. Sie halfen einander, wenn nötig, bei Wartung und Be-trieb der Apparate und Geräte und überhaupt bei allen anfallenden Arbeiten.

Bei den Gesprächen und Begegnungen im Institut, das insgesamt an die 50 Frauen und Männer beschäftigte, erfuhr ich auch, dass die dort gewonnenen wertvollen Informationen nicht nur an die Akademie in Bratislava weiter gegeben wurden. Es gab einen regen wissenschaftlichen Austausch mit bekannten Forschungszentren in Moskau, Paris, Zürich und Boulder (USA). Und die Bedeutung der slowakischen Einrichtung bestand und besteht darin, dass es neben ähnlichen Observatorien im russischen Kislowodsk, beim französischen Pic du Midi oder im japanischen Norikura eins der wenigen „Fenster zur Sonne“ ist. 

aus VS Aktuell 4/2019, erschienen im  VS Aktuell 4/2019 Beim Nachbarn erfahren