1926 in Chemnitz geboren, besuchte Regina Ziegenhals hier u. a. die Rudolfschule und absolvierte eine Lehre zum Textilkaufmann in der Handelszentrale Deutscher Kaufhäuser (HADEKA). Im Juni 1944 wird sie noch zum Arbeitsdienst eingezogen. Die Leiden des Krieges hat sie erfahren, so wurde auch ihre Familie ausgebombt. Bis zur Enteignung der HADEKA arbeitete sie nach dem Krieg wieder dort, dann im Aufsichtsrat der Industrieverwaltung 64. Geschwärmt hat sie von der schönen Zeit im „Chemnitzer Hof“. In dem Hotel war sie bis 1972 gastronomische Leiterin. Nebenberuflich studierte sie an der Fachschule für Binnenhandel. Von 1973 bis 1990 war sie in der Arbeitsökonomie des Konsum-Bezirksverbandes tätig.
Als sie 1968 angesprochen wurde, sich ehrenamtlich in der Volkssolidarität zu engagieren, übernahm sie ohne zu zögern eine Ortsgruppe (jetzt Wohngruppe) in ihrem Wohngebiet, dem Heimgarten, die aus zahlreichen zumeist älteren und mitunter hilfebedürftigen Menschen bestand - die 221. Für die Senioren wurde jeden Monat eine Veranstaltung organisiert – mit Gesang, Tanz oder Sketchen, die sie selbst schrieb. Doch auch für die, die nicht mehr an den Veranstaltungen teilnehmen konnten, war sie da. Sie besuchte die Kranken und gratulierte zu den Geburtstagen. Ihr gelang zudem, eine starke und aktive Nachbarschaftshilfe unter den älteren Bürgern aufzubauen. Dem Nachbarn uneigennützig helfen, auch wenn es nur mal eine kleine Handreichung ist, das war ihr Anliegen. Man war füreinander da, kümmerte sich umeinander. Neben der Organisation eines vielseitigen Mitgliederlebens stand für sie der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Menschen aus ihrem Alleinsein und ihrer Einsamkeit herauszuholen, ihnen ein wenig Lebensfreude zu vermitteln und sie zu motivieren, an der Gemeinschaft mitzuwirken und dadurch eine neue Aufgabe zu finden, das lag ihr stets am Herzen.
Dann kamen 1989 die Wirren der Wende. Viele haupt- und ehrenamtlichen Leitungskräfte verließen die Volkssolidarität, da sie kaum Chancen für ihr Überleben sahen. Ortsgruppen zerfielen, andere schlossen sich enger zusammen, um den Erhalt der Volkssolidarität zu sichern. Von 44 ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern erklärte sich nur Regina Ziegenhals im Juli 1990 dazu bereit, das Amt des Vorsitzenden kommissarisch zu übernehmen. Letztendlich wurde zur Stadtdelegiertenkonferenz am 23. November 1990 der Volkssolidarität Stadtverband Chemnitz e. V. gegründet. Damit erfolgte die Umwandlung von einer bis dahin zentral geleiteten Organisation in einen selbstständigen Verein mit einem demokratisch gewähltem Vorstand, Regina Ziegenhals wurde zur Vorsitzenden gewählt. 20 Jahre sollten es werden, in denen sie diese Funktion ausführte; 20 Jahre, in denen sich die Volkssolidarität Chemnitz zu einem stabilen Verein entwickelte, der heute neben der Mitgliederarbeit und der Interessenvertretung eine Vielzahl sozialer Dienstleistungen anbietet. Als sie 2010 nicht erneut zur Wahl antrat, beschloss die Stadtdelegiertenversammlung per Änderung der Satzung, dass der Verein einen Ehrenvorsitzenden haben könne. Aufgrund ihrer großen Verdienste um den Erhalt des Stadtverbandes wurde zugleich Regina Ziegenhals zur Ehrenvorsitzenden ernannt. Nur wenige Wochen später wurde ihr die Ehre zuteil, sich in das Goldene Buch der Stadt Chemnitz einzutragen.
Wir brauchen eine neue Vorsitzende
Im September 1968 war es, als der WBA-Vorsitzende Hans Süß auftauchte und ohne große Umschweife erklärte: „Wir brauchen eine neue Vorsitzende für unsere Wohngruppe der Volkssolidarität. Die Paetzold Milda schafft das nicht mehr. Sie ist ja schon 83.“ „Und wie kommt ihr gerade auf mich?“, habe ich wenig begeistert reagiert. „Ich habe beruflich genug zu tun. Außerdem weiß ich gar nicht, was ich mit älteren Menschen anstellen soll. Mit 42 Jahren werden die mich kaum akzeptieren.“ Der Süß Hans hat sich trotzdem nicht abwimmeln lassen und gemeint: „Komm nur erst mal zur Sitzung und dann sehen wir weiter.“
Also war ich eine Woche später zur Sitzung marschiert. Dort hatten die Mitglieder der Ortsgruppenleitung Herr Herold, Frau Paetzold und Frau Spangenberg die „Neue“ bereits erwartet. „Wir müssen eine Veranstaltung organisieren, die die Leute aus ihren Wohnungen locken und für mehr Geselligkeit und Gemeinsamkeit begeistern“, waren sie sich einig. Für die Leute stand fest, dass ich den Vorsitz übernehme. Eine Ablehnung hatten sie gar nicht eingeplant. Ich wurde sofort in die Organisation der Veranstaltung einbezogen. „Wir brauchen ein kleines Programm. Ich könnte etwas auf dem Klavier vortragen“, hatte Herr Herold vorgeschlagen. Ida Sprangenberg und Milda Paetzold wollten die Leute mit Wettspielen unterhalten. „Wir könnten um die Wette Knöpfe annähen und mit Stricklieseln um die Wette stricken. Material und ein paar Preise versorgen wir.“ Beim Kassieren des Volkssolidaritätsbeitrages wurden die Leute eingeladen. Kurz darauf erkundigte sich der Schiller-Bäcker: „Ihr habt eine Veranstaltung im Johannisgarten, da bringe ich euch den Kuchen.“ Auch der Eis-Demmler zeigte sich großzügig und lieferte Thermoskannen mit frisch gebrühtem Kaffee an.
Über 50 Leute waren im Johannisgarten eingetroffen, zum Großteil Frauen und einige gleich in der Wickelschürze. Die Tische waren schön eingedeckt, Kaffeetassen und Teller passten zwar nicht immer zusammen, aber das störte keinen. Noch am gleichen Tag boten sich die ersten Helfer für die Arbeit in der Ortsgruppe an, wurden Vorschläge für einen Arbeitsplan gemacht. Ich übernahm den Vorsitz der Heimgartengruppe 221.
„Die Lumpen nehme ich euch nicht ab“
Noch sehr genau erinnere ich mich an eine Aktion Mitte der 70er Jahre. Wir hatten ja nie genug Geld, also wollten wir unsere Klubkasse durch eine Altstoffsammlung aufbessern. Wir sammeln Flaschen und Altpapier, hatten wir uns vorgenommen. Wenn wir ordentlich Reklame machen, kommt bestimmt eine ganze Menge zusammen.
Die Idee stieß im Heimgarten auf offene Ohren. Mit Taschen, Kisten und Handwagen voller Flaschen und Papier trafen die Bewohner am Sammelort ein. Dort waren zwei Garagen kurzerhand zu Altstoff-Zwischenlagern umfunktioniert worden, so dass alles ordentlich verstaut werden konnte. Der Vorrat an Flaschen und Papier wuchs ständig. Sogar mit Säcken voller Lumpen rückten die Leute an.
Ein Altstoff-Spender ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Auch er war mit dem Handwagen voller Flaschen und Papier eingetroffen, hatte die Sachen abladen lassen und stand wartend neben seinen leeren Wagen. „Ist noch was?“ – „Ich warte auf mein Geld.“ – „Geld gibt es hier nicht, wir sammeln doch für unsere Gruppe der Volkssolidarität.“ – „Na, dann ladet das Zeug mal wieder auf, da hol ich mir eben mein Geld beim Altstoffhändler. Das reicht bestimmt für eine Tankfüllung für meinen Trabi.“ Mit seinem vollen Wagen war der Geizhals wieder abgezogen. Zum Glück war das die Ausnahme.
Tatkräftige Hilfe erhielten wir vom Kraftverkehr Karl-Marx-Stadt. „Klar bekommt ihr von uns einen LKW mit Anhänger“, hatten die Kollegen unbürokratisch zugesagt, „Allerdings klappt es nur sonnabends, in der Woche brauchen wir unsere Autos selbst.“ Also musste der Termin mit dem Altstoffhändler ebenfalls für Sonnabend vereinbart werden. Der hatte offenbar schon andere Pläne und zeigte wenig Begeisterung, am Sonnabendvormittag Altpapier und Flaschen entgegenzunehmen. „Na gut, aber ihr kommt nicht so spät“, hatte er dann doch zugestimmt.
Am vereinbarten Sonnabend war der LKW mit Anhänger im Heimgarten vorgefahren. Sogar eine kleine Hebevorrichtung hatten die Kollegen vom Kraftverkehr mitgeschickt. Trotz dieser technischen Hilfe dauerte das Aufladen länger als geplant.
Mit einiger Verspätung traf die Fuhre beim Altstoffhändler in Altendorf ein. Ohne seine Empörung zu verbergen, nahm er Altpapier und Flaschen in Empfang. Beim Anblick der Lumpensäcke rastete er aus: „Die bleiben auf dem Auto, die nehme ich euch nicht mehr ab.“ „Und was sollen wir damit machen, ich muss das Auto leer zurückbringen!“, schimpfte ich und drohte an: „ Wenn ich die Lumpen hier nicht loswerde, schmeiß ich die Säcke mit einer entsprechenden Erklärung vors Rathaus.“
„Das macht die wirklich!“, sagte der Altstoffhändler entsetzt zu seiner Frau und nahm die Säcke doch noch ab. Unterm Strich brachte die Aktion den eifrigen Sammlern rund 3.000 Mark für die Klubkasse, auch ohne die Handwagenladung des Geizhalses.
Letzte Jahreshauptversammlung vor der Wende
Dass ich mich an dieses Datum genau erinnere, ist wohl kein Kunststück. Wie üblich und in den letzten Jahren durchaus nicht außergewöhnlich, hatte die Ortsgruppe 221 ihre Mitglieder zur Teilnahme an der Jahreshauptversammlung für das Jahr 1989 im Januar 1990 eingeladen. Auf der Tagesordnung stand der Rechenschaftsbericht der Vorsitzenden zur Arbeit der Wohngruppe im Jahre 1989 und natürlich die Problematik der Situation, in der sich die Volkssolidarität zu diesem Zeitpunkt befand. Es gab keinerlei Anzeichen auf irgendwelche Vorkommnisse, die darauf hindeuteten, dass sich die Volkssolidarität von ihren Freunden in der Ortsgruppe verabschieden wollte. Aber auch keine, in der Richtung, dass die Mitglieder die Organisation verlassen würden.
Weiter stand der Bericht der Hauptkassiererin zur Finanzlage der Ortsgruppe an. Sie informierte ausführlich zu den Einnahmen und Ausgaben, detailliert zu den Ausgabezwecken. Der Bericht des Revisors befasste sich mit der Ordnungsmäßigkeit der Kassenbücher und Quartalsabrechnungen sowie der Kontrolle der Kassenbücher. Ausführungen machte er ebenfalls zu der Prüfung der jährlich durch den Stadtbezirksausschuss vorgesehenen Kontrollpunkten.
Eigentlich sind die Berichte durch das Hören in den vielen Jahren schon etwas zur Routine geworden, trotzdem werden sie immer wieder mit Spannung erwartet. Es werden einige Freunde für besonders gute Leistungen im Wettbewerb, im Rahmen der für das laufende Planjahr gestellten Ziele belobigt und ausgezeichnet. So war es auch diesmal.
Als Gäste konnten wir Vertreter des Wohnbezirksausschusses der Nationalen Front begrüßen. Besonders erfreut waren wir, dass der Vorsitzende des Bezirksausschusses der Volkssolidarität, Freund Zschunke und seine Gattin der Einladung gefolgt waren.
Der Klub war voll. Einige Gäste und Freunde waren darunter, die wir bisher zu unseren Beratungen und Veranstaltungen nicht wahrgenommen hatten. Aber was sollte es. Wir hatten nichts zu verbergen. Die Stimmung wurde immer gespannter. Nicht nur ich, alle meine Freunde im Arbeitspräsidium empfanden dies überaus deutlich.
Wir, die sprechen mussten, hatten uns ohne Abstimmung vorgenommen, vollkommen ruhig zu bleiben. Streng hielten wir uns daran. Unser Freund Schulze beendete seinen Vortrag mit der Bestätigung der Ordnungsmäßigkeit aller geprüften Dokumente, der Richtigkeit der Bank- und Kassenbestände und schlug vor, die Leitung der Ortsgruppe 221 für das Geschäftsjahr 1989 zu entlasten. Die Entlastung erfolgte einstimmig durch die Stimmberechtigten.
Um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern, schlug ich vor, den Arbeits- und Veranstaltungsplan für das Jahr 1990 vorzutragen, um ihn dann nach einer 15-minütigen Pause mit in die Diskussion einzubeziehen. In der Pause gab es ein bisher nicht bekanntes Gemurmel unter den Freunden, lauthals vorgebrachte Meinungen waren zu hören. In der Diskussion bestätigte es sich dann, dass sich einige verantwortungsbewusste Freunde Gedanken darüber gemacht hatten, wie es weitergehen würde mit der Soli, waren doch in den Wohngruppen schon einige Werber für die Wohlfahrtsorganisationen aus den alten Bundesländern mit viel lukrativeren Angeboten als den unseren unterwegs.
Die Frage – zwar kleinlaut vorgebracht – war schon berechtigt, was nun? Das fragte ich mich auch. Die 221 hatte einen sehr guten Ruf im Wohngebiet. Jetzt kam ihre Bewährungsprobe. Die folgende Diskussion war eigentlich durchweg positiv und von Optimismus geprägt.
Dann kam eine Wortmeldung, die mich schon etwas aus der Fassung brachte. Der Diskussionsredner, ich weiß seinen Namen nicht mehr, fragte an, ob ich als Vorsitzende und die Leitung im Allgemeinen nicht merken würde, dass es in der Organisation kriselt. Er fragte weiter, warum ich nicht die Auflösungserscheinungen im Stadtbezirksausschuss registriere. Es wäre ja auch ganz natürlich, denn was hätte schon die Volkssolidarität den Wohlfahrtsverbänden der alten Bundesländer mit ihrem Besitz an Grund und Boden und ihren Immobilien entgegenzusetzen. Sicher würden sie auch Grundstücke, auf denen die Soli zur Zeit noch arbeitet, zurückfordern.
Es herrschte danach eine gewisse Sprachlosigkeit, bis einer sagte: So weit sind wir noch nicht. Noch sind wir da. Judas Ischariot hat seinen Herrn für 30 Silberlinge verraten, das hat ihm keinen Erfolg gebracht. Ich erinnere an das Schöne und Gute, das wir uns selbst geschaffen und bereitet haben. Wir sollten unsere Wohngruppenleitung und den vielen ehrenamtlichen Helfern den Rücken stärken. Das hat geholfen.
Bestrebungen oder Hoffnungen, dass sich die Volkssolidarität auflösen sollte, wurden nicht wahr. Trotz aller Unkerei, wir sind noch da. Wenn sich auch vieles verändert hat, aber der Kerngedanke des Füreinander und Miteinander ist geblieben. Das, liebe Freunde, macht uns stolz.