Seit 30 Jahren arbeiten die regionalen Wohlfahrtsverbände zusammen. Was bedeutet Liga und wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Die Liga in Chemnitz ist etwas ganz Wertvolles. Mir sind wenige Regionen bekannt, wo diese Zusammenarbeit trotz der Wettbewerbssituation, in der wir uns natürlich befinden, so intensiv und kooperativ stattfindet. In erster Linie sind es die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, die sich regelmäßig treffen und sehr strukturiert die aktuellen Themen der Wohlfahrt miteinander bearbeiten, um Positionen streiten und gemeinsame Stellungnahmen gegenüber unserem wichtigsten Partner verfassen, der Stadt Chemnitz. Oft genug sprechen wir dort mit einer Stimme und sparen unserem Gegenüber auch Abstimmungsprozesse mit den einzelnen großen Wohlfahrtsverbänden vor Ort. Das ist nicht nur ökonomisch, sondern auch unsere besondere Stärke: Die Liga in Chemnitz ist nicht so leicht auseinanderzudividieren und tritt streitbar auf im Interesse der Menschen, die im Zentrum unserer Arbeit stehen. Das ist aber nicht alles: gerade in den letzten Jahren haben wir gemeinsame Aktionen aus der Taufe gehoben, die inzwischen auch öffentlich wahrgenommen werden: unsere Pflegeaktion im Frühjahr, die leider durch Corona ausfallen musste, unsere Aktion Kita und unser gemeinsamer Wohlfahrtslauf. Das zeugt von viel Engagement auf Arbeitsebene – übrigens in Arbeitsgruppen, die bunt gemischt Menschen aus den Wohlfahrtsverbänden der Liga zusammenführen. Das ist schon etwas ganz Besonderes.
Welche besonderen Themenstellungen gab es in der Vergangenheit? (…)
Jedes aktuelle sozialpolitische Thema, das auf die Tagesordnung kommt, wird früher oder später auch Thema der Liga. Die Tatsache, dass wir breit aufgestellt sind und faktisch die gesamte Palette sozialer Dienste anbieten, heißt natürlich auch, dass wir uns mit allen Aufregern befassen müssen. Das geht von Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe über die gute Positionierung der Altenhilfe in unserer Stadt über 100 Einzelthemen, die in unserer Arbeit selbst oder in den politischen Gremien und Verwaltungsgremien der Stadt aufgerufen werden. (…)
Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?
Was die Liga angeht, bin ich zuversichtlich, dass wir auch und gerade in einem rauer werdenden Sozialklima zusammenstehen und der These, „Gemeinsam sind wir stärker“, gerade im Sinne unserer Klientel, gerecht werden. (…)
Personalgewinnung ist ein bedeutendes Thema für Unternehmen. Ist der Fachkräftemangel in Chemnitz spürbar?
Definitiv. Obgleich natürlich je nach Qualifikation und Aufgabenbereich in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Insbesondere die Altenpflege, die ja erst neuerdings beklatscht wird, bis dato aber eher das Schmuddelkind in der öffentlichen Wahrnehmung war – man denke an die vielen „Enthüllungsbücher“, die den Eindruck erweckt haben, dass man faktisch jeden Beruf wählen kann, außer Altenpflege. Zudem die jahrelang sehr restriktive Haltung der sächsischen Pflegekassen bezüglich der tarifgerechten Vergütung der Pflege. Das rächt sich jetzt. Wir freuen uns sehr über die aktuelle Wertschätzung dieses Arbeitsbereiches, hoffen aber, dass sich dies verstetigen lässt und kein „Corona-Strohfeuer“ bleibt. Nicht minder wichtig ist das Thema Erzieherinnen und Erzieher in unseren Kitas. (…)
Sozialen Berufen wird ein Identitätsstiftendes Element nachgesagt. Was macht das Arbeitsfeld der Wohlfahrtspflege besonders?
Die Liga operiert in einem Markt, der nicht weicher und nicht schonender ist als jeder Markt mit Wettbewerb. Was uns unterscheidet ist, dass wir Gemeinnützigkeit nicht nur im Unternehmenstitel tragen, sondern diese schon in gesellschaftsrechtlichen Strukturen leben dürfen: Unsere Erträge fließen nicht an anonyme Investoren ab, sondern verbleiben in der Stadt Chemnitz und bei den Menschen vor Ort, die uns brauchen. Das ist aus meiner Sicht wahre Nachhaltigkeit und Investition in die Stadt Chemnitz. Darüber hinaus wissen wir ja, dass viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Überzeugungstäter sind: Sie haben ihre Berufe ganz bewusst gewählt, um andere Menschen zu unterstützen, und weil sie Freude daran haben, zu helfen. (…)
Der Pflegebereich erfuhr in den letzten Wochen hohe Aufmerksamkeit, Probleme wurden deutlich. Wie schätzen Sie die Pflegesituation für Bürger ein?
Ich denke, die Pflegesituation in Chemnitz ist nicht so prekär wie in einigen anderen Ballungsräumen. Obwohl in der Presse viel geschrieben wird, zum Beispiel zum Thema hohe Pflegekosten, muss man es, denke ich, durchaus wertschätzen, dass wir in einem Land leben, in dem man sich auch als Sozialhilfeempfänger sein Pflegearrangement selbst auswählen kann. Ich glaube, vielen von uns ist nicht bewusst, was für ein Privileg das ist. Da muss man nicht weit weg gehen, der Blick ins europäische Ausland reicht aus. Nichtsdestotrotz wird der Pflegebedarf in der Bevölkerung demografisch bedingt natürlich noch zunehmen und auch der Fachkraftmangel hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Insofern wird das weiter ein Thema sein, an dem wir ständig eng dranbleiben müssen, um gute Bedingungen für die Chemnitzerinnen und Chemnitzer anzubieten. Mit der Stadt Chemnitz, insbesondere mit dem Sozialamt, verbindet uns hier eine sehr kooperative und lösungsorientierte Zusammenarbeit. Dafür sind wir dankbar.
Muss man Angst haben, sich Pflege nicht leisten zu können?
Das hängt sicherlich von der persönlichen Situation ab. Viele Bürger haben nicht nur Angst, sondern sind bereits in dieser Situation. Allerdings auch hier halte ich persönlich nichts von pauschalen Verteufelungen. Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, wo es über den Sozialhilfeanspruch und die freie Wahl des Pflegearrangements noch die Möglichkeit gibt, nach eigenen Wünschen gut versorgt zu werden und das ohne Klassengesellschaft. Das ist nicht selbstverständlich. Allerdings ist auch klar: Die mit Gründung der gesetzlichen Pflegeversicherung politisch induzierte Erwartungshaltungen, es könne eine Pflegeversicherung geben, die das gesamte persönliche Lebensrisiko abdeckt, waren immer unrealistisch und gerade jetzt wird eine Generation pflegebedürftig, die aufgrund ihrer Altersstruktur und ihrer Einkommensverhältnisse gar nicht die Chance hatte, privat vorzusorgen für den Pflegefall. Das kann man Menschen, die jetzt hochaltrig sind, ja nicht vorwerfen, das wäre perfide. Wenn man schaut, wofür in Deutschland alles Geld ausgegeben wird, kann ich mir aber auch sehr gut vorstellen, dass die Pflegeversicherung durchaus auf andere Finanzierungsfüße gestellt werden könnte. Dafür kämpfen wir seit Jahren. (…)
Ehrenamt spielt eine wichtige Rolle für die Verbände. Wie hat sich die Bereitschaft, ehrenamtlich tätig zu sein, in den letzten Jahren entwickelt?
Ehrenamt ist ein wichtiges Standbein unserer Arbeit. Viele Ehrenamtliche leisten über viele Jahre in hoher Verbindlichkeit Arbeit ganz im Verborgenen. Das ist ein riesiger Schatz. Aber so wie ganz Chemnitz werden auch unsere Ehrenamtlichen älter, Demografie trifft uns alle. Eine große Herausforderung an unsere Liga-Unternehmen wird sein, junge Ehrenamtliche für Arbeitsfelder zu begeistern. Dass das möglich ist, steht außer Zweifel. Allerdings müssen wir uns anpassen: Sind viele ältere, in der DDR aufgewachsene Chemnitzerinnen und Chemnitzer noch bereit und in der Lage, ganz verbindlich und dauerhaft eine Aufgabe zu übernehmen, haben junge Menschen heute andere eigene Ansprüche auch an ein Ehrenamt. Durchaus eine Herausforderung, aber eine, die wir annehmen. (…)
Das Interview wurde für den Abdruck in der VS Aktuell gekürzt. Den vollständigen Text finden Sie unter https://liga-chemnitz.de im Internet.