Die Volkssolidarität in Chemnitz

Teil 3b: 1989 - 2020

Interessenvertretung

Die Interessen ihrer Mitglieder und der von ihr betreuten Menschen gegenüber Politik und Verwaltung zu vertreten, diese Aufgabe war für die Volkssolidarität nach der Wende weitestgehend neu.  Die gerade als gemeinnützige Vereine neu gegründeten Verbände der Volkssolidarität stellten sich dieser auf unterschiedlichen Ebenen.

Insbesondere der Bundesverband der Volkssolidarität war und ist als sozialpolitische Interessenvertretung überregional aktiv.  Gemeinsam mit anderen sozialpolitisch agierenden Verbänden arbeitet er in Bündnissen mit und setzt sich bspw. gegen Sozialabbau und gegen die Ungleichbehandlung von ostdeutschen Rentnern ein. Über den viele Jahre von der Volkssolidarität beim Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg  in Auftrag gegebenen „Sozialreport – Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern“ wurde in den Medien berichtet. Der Bundesverband wird von der Politik wahrgenommen und bspw. vom Deutschen Bundestag in Vorbereitung einzelner Gesetze angehört. 

Auf Landesebene übernehmen die Landesverbände die sozialpolitische Interessenvertretung gegenüber der Landespolitik und Landesverwaltung sowie der Öffentlichkeit.
Auf regionaler bzw. kommunaler Ebene vertreten die Stadt-, Kreis und Regionalverbände die Aufgabe der sozialpolitischen Interessenvertretung.

Die Volkssolidarität ist mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband eng verbunden. Der bereits 1924 gegründete Verband versteht sich unter dem Gedanken der Gleichheit aller – der Parität – als Solidargemeinschaft von über 10.000 unterschiedlicher Vereine, Initiativen, Organisationen und Einrichtungen, die ein breites Spektrum an sozialer Arbeit und Bildung repräsentieren. Seit 1990 zählen dazu die Verbände der Volkssolidarität dazu.  

Neben der Beratung der Mitgliederorganisationen in fachlichen, rechtlichen und organisatorischen Fragen, der Unterstützung bei der Beantragung von Förderungen für Projekte, vielfältigen Aus- und Fortbildungsangeboten und vielem mehr ist der Verband eine Lobby für benachteiligte Menschen und verpflichtet sich der Idee der sozialen Gerechtigkeit als das Recht eines jeden Menschen auf gleiche Chancen zur Verwirklichung seines Lebens in Würde und der Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Der 1990 wiedergegründete sächsische Landesverband der Parität ist mittlerweile der größte Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen und vertritt rund 480 Mitgliedsorganisationen, davon allein in Chemnitz über 200. Bis zur Schaffung einer Außenstelle in der Stadt wurde der Verband gemeinsam durch den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und die Volkssolidarität vertreten.   

So saß die Volkssolidarität Ende 1990 gemeinsam mit anderen Vereinen und wiedergegründeten Wohlfahrtsverbänden mit am sogenannten „Tisch der freien Träger“. Diesen gab es bis zum 2. November 1990 und ist ein Vorläufer der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Chemnitz (Liga). 

Die Zusammenarbeit soll anfangs keineswegs harmonisch und der Start holprig gewesen sein. Das ist wenig verwunderlich, ging es doch der Stadt in den ersten Monaten und Jahren um die Verteilung und Umverteilung sozialer Dienste. Der politische Wandel, die deutsche Einheit und die Etablierung des Sozialstaatsprinzips in den neuen Bundesländern riefen unterschiedliche Interessenlagen hervor. So musste bspw. laut dem Protokoll einer Beratung vom 17. Dezember 1990 die Volkssolidarität soziale Bereiche an die in der Stadt wiedergegründete Arbeiterwohlfahrt (AWO) abgeben. Ebenfalls im Papier wird Bezug auf eine Beratung der Träger der freien Wohlfahrtspflege am 12. Dezember 1990 genommen.

Am 18. Dezember 1990 fand das erste Treffen des Wohlfahrtsausschusses der Kommune, der heutige Arbeitskreis Wohlfahrtspflege, statt. Dabei wurden u. a. seine Aufgaben definiert.

Eine Vereinbarung zur gemeinsamen Beratung mit den Wohlfahrtsverbänden der Stadt wurde am 22. Januar 1991 geschlossen. Während in der Liga andernorts die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Caritasverband, die Stadtmission, das Deutsches Rote Kreuz, ein Wohlfahrtsverband der Jüdischen Gemeinde und der Paritätische zusammenarbeiten, kommen in Chemnitz als Gründungsmitglieder ASB und Volkssolidarität hinzu. Per Schreiben legitimiert vertraten sie den Paritätischen. Ein Vertreter und ebenso die Jüdische Gemeinde stießen erst später zur Runde. In beratender Funktion ist auch der KJF e. V. an der Arbeit der Liga beteiligt.

1991 konnte nun die Liga ihre Arbeit richtig aufnehmen. Die Treffen fanden gewöhnlich vor dem Wohlfahrtsausschuss zur gemeinsamen Absprache der Themen statt. Reihum lernten dabei die Vertreter der Wohlfahrtsverbände, zumeist deren Geschäftsführer, die Geschäftsstellen der anderen Verbände kennen. Einer der ersten Erfolge der Zusammenarbeit war der Erhalt des Haushaltsplanes für die gemeinnützigen Verbände. Die Liga hatte hier ein Mitspracherecht bei Anträgen an die Kommune und ebenso zur Richtlinie zur Förderung freier Träger. Andreas Lasseck, damaliger Geschäftsführer der Volkssolidarität Chemnitz, hatte damals eine Vorlage aus einer anderen Stadt organisiert und vorgelegt. Die Liga wurde mit den Jahren immer mehr von der Kommune wahrgenommen und in Entscheidungsfindungen einbezogen. Jährlich stattfindende Gespräche mit dem Oberbürgermeister sind ein Ausdruck davon. 

Die Liga ist nicht nur in den Gremien eine Interessenvertretung, sondern auch in der Öffentlichkeit. So beteiligte sich die Volkssolidarität Chemnitz als Mitglied im November 2010 an einem Autokorso unter dem Motto  „Für Chemnitz – modern, sozial, gerecht!“. Über 180 Fahrzeuge nahmen an der von der Liga gemeinsam mit einem Bündnis organisierten Aktion teil. Dem vorausgegangen war die Veröffentlichung eines  „Entwicklungs- und Konsolidierungskonzeptes 2015“ der Stadt Chemnitz. 50 Millionen Euro sollte die Kommune einsparen, ansonsten drohe die Nichtgenehmigung der Haushaltspläne und „Zwangsverwaltung“ der Stadt durch die Landesdirektion. Mit einem Positionspapier beteiligte sich die Liga nicht nur an der Diskussion zu Kürzungsplänen, sondern sie bot auch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit beim Finden von bezahlbaren Lösungen an. In Gesprächen der Kommune mit der Liga konnten einige bessere und vertretbarere Varianten zu einzelnen Punkten besprochen werden. Dass die Kürzungen so sozial wie möglich gestaltet werden müssen, dafür setzte der Autokorso ein gut sichtbares Ausrufezeichen.

Neben dem aktiven Einsatz für eine verlässliche Finanzierung sozialer Dienste tritt die Liga für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen in Kindertagesstätten und Pflegeeinrichtungen ein. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Initiativen ist der seit 2012 stattfindende Aktionstag am 20. September, dem Weltkindertag, der auf die Probleme in der Kindertagesbetreuung aufmerksam macht. Nicht zuletzt durch dieses Engagement konnte eine schrittweise Verbesserung des Betreuungsschlüssels und die Sensibilisierung der Politik erreicht werden. 

Unter dem Schlagwort #denkmalPflege und Aktionstagen zur Pflege stellt die Liga seit 2012 das vielfältige Tätigkeitsfeld der Pflege in den Mittelpunkt. Damit soll einerseits dem bestehenden Fachkräftemangel und möglichen Vorbehalten gegenüber den Pflegeberufen begegnet werden und andererseits werden Lösungsvorschläge für eine bessere Pflegesituation aufgezeigt. 

Anlässlich des 875-jährigen Stadtjubiläums von Chemnitz organisierte die Liga Stadtrundfahrten zu historischen und aktuellen Orten der Wohlfahrtspflege und gab eine Broschüre dazu heraus. Die Aktion sollte aufzeigen, dass auch die Wohlfahrtspflege mit ihren Gebäuden eine Stadt prägt. So führte die Tour nicht nur an einigen Einrichtungen der Volkssolidarität vorbei, sondern auch am Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz, in dem die Volkssolidarität nach dem II. Weltkrieg u. a. eine Tauschzentrale eingerichtet hatte.  
Ebenfalls im Jubiläumsjahr der Stadt Chemnitz rief die Liga gemeinsam mit dem Stadtsportbund zu 875 Runden „vereint laufen“ auf. Beim gemeinnützigen und barrierefreien Lauf im Küchwald Chemnitz kann jeder mitlaufen, der möchte: Kinder und Jugendliche, Senioren, Menschen mit Behinderungen und Rollstuhlfahrer sowie Freizeit- und Leistungssportler gleichermaßen. Die Veranstaltung wurde 2019 neu aufgelegt. 2020 musste sie wie auch viele andere Aktionen aufgrund der Einschränkungen der Corona-Pandemie abgesagt werden. 
Die Aktionen der Liga werden jeweils von Arbeitsgruppen vorbereitet. Besetzt sind diese mit Mitarbeitern der Verbände, darunter auch von der Volkssolidarität. 

Um die Interessen von Chemnitzer Senioren besser vertreten zu können, haben Sozialverbände, Gewerkschaften, Vereine und Initiativen 2008 ein Seniorenpolitisches Netzwerk Chemnitz, unabhängig parteipolitischer Einflüsse, gegründet, in der die Volkssolidarität Chemnitz aktiv mitwirkt. Die Mitglieder des Netzwerkes wollen das bürgerliche Engagement älterer Menschen fördern, sich stärker für die Wünsche und Bedürfnisse der Senioren einsetzen und die Ideen und Tatkraft der Älteren unterstützen. 

Auf Initiative von Mitgliedern, Mitarbeitern und Freunden der Volkssolidarität Chemnitz gründete sich im März 2009 die unabhängige Wählervereinigung Volkssolidarität Chemnitz (VOSI). Den Wählern sollte bei der Wahl zum Chemnitzer Stadtrat im Jahr 2009 eine Alternative mit sozialer Kompetenz geboten werden. 

Beachtliche 4,2 % der Stimmen konnte die neue Wählervereinigung erhalten. Mit zwei Stadträten zog sie in das kommunale Parlament ein. Für wenige Wochen konnte sie sogar den Status einer Fraktion und damit für die Arbeit dringend notwendige finanzielle Mittel erhalten. Zudem hängt die Beteiligung an verschiedenen Gremien wie bspw. am Sozialausschuss daran. Der Stadtrat legte jedoch durch einen Beschluss die Hürden für die Bildung einer Fraktion höher, indem dafür nunmehr drei Stadträte notwendig sind. Dadurch verlor die Wählervereinigung den Status einer Fraktion und war  nur im Stadtrat und nicht in anderen Gremien stimmberechtigt.

Mit einer öffentlichkeitswirksamen Aktion wies die Wählervereinigung im Jahr 2013 auf die besondere Bedeutung des Amtes eines Oberbürgermeisters hin. Sie wählte ihren Kandidaten im Nachgang zu einer Veranstaltung im Schauspielhaus, bei der zuvor auf ihre Eignung geprüfte und nicht an eine Partei gebundene Bewerber um den Kandidatenposten sich wie bei einem Casting vorstellen konnten. Letztendlich konnte Hans-Jürgen Rutsatz bei der Wahl zum Oberbürgermeister 4,05 % der Stimmen auf sich vereinigen.

2014 stellte sich die Wählervereinigung erneut der Wahl. Ein Stimmenanteil von 3,1 % brachte wieder zwei Sitze im Stadtparlament. Neben Andreas Wolf-Kather, der bereits seit 2009 Stadtrat ist, nahm nun Lars Faßmann Platz. Gemeinsam mit Toni Rotter von der Piraten-Partei setzten sie sich als Fraktionsgemeinschafts „Vosi/Piraten“ für die Bürger der Stadt und bspw. durch die Einführung von „OpenAntrag“ in die Fraktionsarbeit für deren Beteiligung ein. Ebenso war der Zugang zu stimmberechtigten Gremien nun möglich und die Wählervereinigung Volkssolidarität Chemnitz konnte einige sachkundige Beiräte für diese besetzen.

Nach der Kommunalwahl 2019 konnte Andreas Wolf-Kather mit einem Stimmenanteil von 2,27 % nur noch alleine im Stadtrat für die Wählervereinigung Platz nehmen. Er schloss sich als parteiloses Ratsmitglied der Fraktionsgemeinschaft Bündnis 90/Die Grünen an und kann dadurch bis zur nächsten Kommunalwahl im Jahr 2024 die Interessen der Bürger u. a. im  Sozialausschuss, im Seniorenbeirat und im Kleingartenbeirat vertreten.

aus VS Aktuell 2/2021, erschienen im  VS Aktuell 2/2021 Aus der Stadtgeschichte