Gestatten: Birkensteig ist mein Name. Ach, Sie kennen mich nicht? Na ja, macht nichts, wer kennt schon alle Straßen in seiner Stadt. Doch ich würde Ihnen gerne meine Geschichte vom Entstehen bis zur Gegenwart erzählen. Eine interessante Geschichte!
Sie finden mich im heutigen Stadtteil Ebersdorf*. Dort, wo sich einst einer der größten Rangierbahnhöfe Deutschlands und ein Reichsbahnausbesserungswerk, stadtbekannt als RAW, befanden. Diese Anlage zählte Anfang des vorigen Jahrhunderts zum größten Arbeitgeber in Hilbersdorf. Viele Menschen aus den nahen industrieschwachen und ärmlichen Erzgebirgsregionen fanden hier Arbeit und Brot sowie eine neue Heimat. Doch diese und ihre Familien brauchten dringend Wohnraum. So entstand Mitte der dreißiger Jahre zwischen der Lichtenwalder Straße und dem Waldgebiet „Schneller Markt“ eine große Eisenbahnersiedlung. Meine Straße, mit nur wenigen Doppelhäusern, erhielt den Namen Birkenweg. Die neu gepflanzten kleinen Bäumchen waren der Namensgeber für mich. Was war ich stolz auf meinen Namen und natürlich die schönen Häuser, ausgerüstet mit vielen Errungenschaften der neuen Technik. Und wie glücklich waren darüber erst meine Bewohner! Nie mehr bei eisiger Kälte und Schneegestöber das „stille Örtchen“ im Nebengebäude aufsuchen. Auch fließendes Wasser gab es jetzt in jeder Wohnung. Wie oft waren sie mit Eimern und Kannen gelaufen, um die Badewanne zu füllen. Die einzige Wasserentnahmestelle befand sich zu jener Zeit meist nur im Treppenhaus. Endlich gehörte das der Vergangenheit an. Das waren wohl die größten Verbesserungen für meine neuen Mieter. Große Freude empfand ich darüber, wie meine Bewohner ihre kleinen Gärten, die zu jeder Wohnung gehörten, so liebevoll pflegten. Vom Frühjahr bis zum späten Herbst schmückten die kleinen Parzellen prächtige Blumen. In den Vorgärten blühten üppige Hortensien-Büsche. Das Schönste aber waren für mich die vielen Kinder, deren Spielplatz die kaum befahrene Straße war und die hier eine unbeschwerte Kindheit erlebten. Na ja, manchmal gab es auch Ärger, wenn ihr Geräuschpegel den wohlverdienten Schlaf der Lokführer nach einer verantwortungsvollen Nachtschicht störte. Dann dröhnte schon mal eine erboste Stimme aus einem der Fenster: „Schert euch zum Teufel, mein Mann muss schlafen!“ Kichernd, mit eingezogenen Köpfen, trollten sie sich ein Stück weiter. Kinder gab es in jeder Familie und aus den Hausbewohnern wurde eine Hausgemeinschaft. Es waren glücklich Jahre. Leider fanden diese 1939 mit Beginn des 2. Weltkrieges ein jähes Ende. In meinen Häusern fehlte es jetzt an Männern. Nur wenige, bei der Reichsbahn als unabkömmlich eingestuft, blieben verschont. Kurz vor Kriegsende, im Jahr 1945, holte dieser Krieg auch Chemnitz ein. Mehrere deutsche Großstädte waren bereits in Trümmerfelder verwandelt, als am 5. März angloamerikanische Bomben die Chemnitzer Innenstadt fast völlig zerstörten. Was habe ich gebangt. Und dann schlug in meiner unmittelbaren Nähe eine Luftmine ein. Sie erschütterte meine Häuser bis auf die Grundmauern und hinterließ an einigen hässliche Spuren. Jetzt wurden in meinen einst bewunderten Blumengärten Rhabarber und Kartoffeln angebaut. Die Not hatte Einzug gehalten. Ein Viertel aller Wohnungen in Chemnitz war im 2. Weltkrieg zerstört worden. Riesige Trümmerberge waren zu beseitigen. Wieder fehlte es an Wohnraum. So entstanden Anfang der sechziger Jahre große neue Wohngebiete. Baumaterial war knapp. Für dringend nötige Reparaturen der Häuser meiner Straße wurde nur wenig getan. Aus kleinen Mängeln entstanden riesige Bauschäden. Ein trauriger Anblick! Auf dem Birkenweg, der jetzt den Namen Birkensteig trägt, wurde es still. Das frohe Kinderlachen versiegte. Die Kinder von einst hatten selbst Familien gegründet und wurden glückliche Bewohner der neu erbauten Wohnungen, die alle über Bäder und oftmals auch Balkone verfügten. Die Wohnungen auf meiner Straße waren nicht mehr begehrt und ihre langjährigen Mieter fanden sich resigniert mit den Mängeln ab.
1990 änderte sich vieles.
Im wieder vereinten Deutschland gab es Baumaterial in Hülle und Fülle. Die Häuser meiner Straße waren sehr reparaturbedürftig. Meine Bewohner waren zuversichtlich. Jetzt wird alles besser! Bald darauf erhielten die Häuser einen neuen Eigentümer. Die Deutsche Reichsbahn, meinen vorherigen Besitzer, gab es nicht mehr. Der neue ließ mit Baumaßnahmen nicht lange auf sich warten. Unsinnige Aktivitäten, die sich gravierend auf die Miete auswirkten. So wurde u. a. der Hof gepflastert und eine Wechselsprechanlage eingebaut, die die hochbetagten Mieter kaum nutzten. Sie waren enttäuscht. Mit allgemein zunehmendem Wohnungsleerstand verließen auch viele Bewohner meiner Häuser ihr langjähriges Zuhause. Bald war fast alles Leben erloschen. Das waren meine traurigsten Jahre und dennoch war ich froh, dass meine Häuser die Jahrtausendwende überstanden haben und nicht Opfer der Abrissbirne wurden, wie so viele andere. Sollte es für meine Straße doch noch eine Zukunft geben?
Ja, heute bin ich zuversichtlich. Ein neuer Investor hat mich in ein kleines Schmuckstück verwandelt. Die grauen Fassaden sind farbigen Anstrichen gewichen, Balkone wurden angehängt, Wohnungsgrundrisse verändert, Bäder eingebaut. Aus den Gärten und Vorgärten wurden Parkflächen, die die neuen Mieter für ihre Autos dringend benötigen. Eine neue Zeit ist angebrochen und mein Birkensteig ist wieder das, was er einmal war: Eine schöne Wohngegend. Nur die vielen fröhlichen Kinder, die vermisse ich.
* Der Birkensteig befindet sich heute in Chemnitz-Ebersdorf. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Stadtteil noch eine eigenständige Gemeinde. Genauso das benachbarte Hilbersdorf, welches sich damals durch die Ansiedlung von Eisenbahnwerkstätten zu einem Eisenbahnervorort entwickelte. Seit 1904 ist Hilbersdorf ein Stadtteil von Chemnitz. 1914 wurde von Ebersdorf die Fläche bis zum „Schnellen Markt“ mitsamt dem Birkensteig eingemeindet und gehörte fortan zu Chemnitz-Hilbersdorf. Das blieb auch so nach der Eingemeindung von Ebersdorf im Jahr 1919. Durch die Neuordnung der Stadtteile nach der Wiedervereinigung befindet sich der Birkensteig seitdem wieder in Chemnitz-Ebersdorf. (Anm. d. Red.)