Mein Seh-Zeichen

Ich mag ihn. Doch nicht immer schon. Als er wuchs – in Meterschüben pro Tag – habe ich ihn gehasst. Solch ein Koloss! Er hatte Wege zerschnitten, Siedlungen getrennt, Menschen entzweit.

Heute ist er mein Seh-Zeichen. Weithin ragend. Farbig blinkend.

Manchmal tanzen Seepferdchen auf seinem obersten Gesims. Hüpfen übermütig auf und ab. Eins duckt sich, eins streckt sich, ein drittes fliegt davon. Abends trägt es sein rotes Collier. Schmückt sich bis zur Stirn mit funkelnden Steinen.

Wenn ich heimwärts reise, ist er der Erste, der mich grüßt. Ob von Dresden oder Zwickau kommend; ob unterwegs auf hügeligen Straßen im Muldental oder vom Thumer Berg rollend. Er sagt mir: du bist bald zu Hause.

Eine Fahne schwenkt er immer. Mitunter zu brodelnden Wolken geformt, wo eine aus der anderen quillt. Dann wieder zeigt er mit majestätisch großer Geste einen weithin fliehenden Schweif. An ruhigen Tagen hält er Balance – kerzengerade, gestreckt.

Er spielt mit der Fahne, schafft täglich neue Bilder: Am roten Abendhimmel faucht ein schwarzer Drache; Schäfchen ziehen friedlich ostwärts. Und im Winter erst! Bei klirrendem Frost entstehen Berge aus Eis und Gletscher vor blauer Kulisse.

Natürlich, anderswo grüßen die Augustusburg, der Meißner Dom, die Annenkirche. Doch nie beweglich, so lebendig.

Und nun in leuchtende Farben gehüllt – kündend von Europas Kulturhauptstadt.

Einst nannte ich ihn „Riese von Mitte-Nord“. Er bleibt mein Seh-Zeichen von Chemnitz. Der Schornstein des Heizkraftwerkes – 300 Meter hoch.

 


Anmerkungen der Redaktion: 

Der Schornstein des Heizkraftwerks Chemnitz-Nord wurde von 1979 bis 1984 errichtet. Mit einer Höhe von 301,80 Metern ist er das höchste Bauwerk Sachsens. Drei Jahrzehnte war er Wind, Regen und Frost ausgesetzt. Bei der dadurch notwendigen Sanierung verwandelte er sich in ein Kunstwerk und in ein aus der Ferne schon sichtbares Wahrzeichen der Stadt. Auf Grundlage eines Entwurfs des französischen Künstlers Daniel Buren erhielt er einen Anstrich aus sieben unterschiedlichen Farben. Nach Aussage des Betreibers, der Eins Energie in Sachsen, sei der Schornstein dadurch zum höchsten Gesamtkunstwerk der Welt geworden. Mehr oder weniger liebevoll wird er mitunter von den Chemnitzer Einwohnern „Esse“, „Schorsch“, „Lulatsch“ oder auch „Buntstift“ genannt.

aus VS Aktuell 1/2022, erschienen im  Meine Stadt   VS Aktuell 1/2022# WG018