Ein Krokodil auf dem Kaßberg

Chemnitz gibt zu Jahresbeginn und auch zum wiederholten Mal eine Umfrage zu Perspektiven der Stadt in Auftrag, insbesondere zum Bleiben oder auch Gehen. So ist es die Zielgruppe der Jugendlichen, die umworben oder im Falle eines anderslautenden Ergebnisses eben nicht ausreichend und richtig umworben wird. Schon 2021 wollte das Netzwerk für Kultur- und Jugendarbeit von 14 – 27-Jährigen herausfinden, wo sich junge Leute in unserer Stadt besonders gern aufhalten und was sie sich für die Zukunft wünschen. Nun interessiert 2023, so „Radio Chemnitz“, was junge Menschen dazu bewegt, unsere Stadt zu verlassen.  

Würde man uns ältere Menschen in unserer Stadt fragen wollen, müsste man allein aufgrund der geringeren Mobilität möglicherweise mit einem Schulterzucken rechnen: „Wo sollen wir denn jetzt auch noch hin?“ Dahinter steckt, behaupte ich, weniger Pessimismus, als anzunehmen wäre. Erfahrungen und Vernunftgründe erzeugen eine bestimmte Gelassenheit, seinen Frieden mit der Stadt gemacht zu machen. Vielleicht mit ihren vielen leicht zugänglichen Grünflächen, mit dem Wechsel von Moderne, Neubeginn und Industriegroßstadt in der Stadtarchitektur, mit der günstigen Entfernung zum Erzgebirge u. ä.? Vielleicht auch mit dem Schicksal der Stadt seit Krieg, Zerstörung und Neubeginn? Aber offensichtlich gibt es nicht nur verschiedene Kriterien für verschiedene Generationen, sondern auch von verschiedenen Entscheidern.

Ginge es nach der Zukunft von Familienunternehmen, so untersuchte das eine Studie des ZEW Mannheim, dann ginge es vor allem um ökonomische Standortfaktoren. Deutschland biete, laut dieser Studie, nur Erstklassiges für den Bereich von Finanzierungen.

Halt! Das betrifft uns ja ganz und gar nicht, wieder vielleicht pessimistisch unterlegt: Für uns gibt doch keiner eine müde Mark aus. Wer investiert denn noch in uns? Diese Antwort wäre vielleicht nicht nur pessimistisch, sie stimmt genau betrachtet auch nicht.

Chemnitzer Unternehmen fehlen bis 2035 15.000 Menschen und eine Beteiligung älterer Beschäftigter könnte einer Schrump­fung des Arbeitsmarktes entgegenwirken, wobei es sicher ohne Zuwanderer nicht gehen wird. Aber laut Handelskammer gibt es allein in Chemnitz rund 2700 inhabergeführte handwerkliche Unternehmen, von denen 8 – 9 % der Inhaber älter als 65 Jahre sind. 

Es hört sich fast so an, als braucht der Arbeitsmarkt „Senioren“, so auch eine Schlagzeile der „Freien Presse“ neulich. Man will das Fachkräftepotenzial an qualifizierten und erfahrenen Fachkräften nicht unangetastet lassen und müsse dafür Chancen eröffnen. Immerhin kommt unsere Stadt auf Platz 3 unter 71 in puncto Beschäftigung Älterer, und zwar schon eine gewisse Zeit. 

Hier bewahrheitet sich also nicht nur Omas und Opas Spruch am Küchenhandtuch „Handwerk hat goldenen Boden“, da zeigt sich auch, in welcher Tradition Menschen unserer Stadt trotz aller Unwägbarkeiten stehen und es offenbar auch noch tun.

Auch dieses Typische an unserer Stadt gereicht ihr zu Ehren, hierzubleiben, bei ihr zu bleiben.

Fast scheint es so, als könnte die Stadt Senioren ausschließlich wegen des Arbeitskräftepotenzials und weniger wegen deren Erinnerungen und Lebenserfahrungen „gebrauchen“?

Umfragen unter uns älteren Menschen sind mir ehrlich gesagt für lange, lange Zeit nicht untergekommen. Umfragen mit solchen Fragestellungen wie: Wo halten Sie sich am liebsten auf, was erhoffen Sie sich in dieser Hinsicht? (Warum wir diese Stadt verlassen, wäre sicher eine gegenstandslose Frage.) Vielleicht könnten junge Menschen aus diesem Gegensatz etwas für sich und die Gesellschaft gewinnen? 

Was tut also unsere Stadt, für die Jungen und für die „Alten“? 

Da fällt mir zum Beispiel der Kaßberg ein, auf dem ich schon mehrere Jahre zu Hause bin, da, wo einmal die Straßenbahnlinie hinauf- und hinunterfuhr, besonders in der Kurve quietschte.

Noch mit den Kindern und später „nur“ mit Ehefrau führte uns vor allem am Wochenende unser Weg durch den Park am „Falke-Platz“, der eigentlich in unserer Erinnerung den Namen „Pionierpark“ erhalten hat, so wie der „kleine Bruder“, der Verkehrsgarten am Pionierhaus „Juri Gagarin“, heute „Kraftwerk“. Der Verkehrsgarten steht leider schon lange nicht mehr zukünftigen Straßenverkehrsteilnehmern im „Pionieralter“ zur Schulung zur Verfügung.

Im „Park am Falke-Platz“ sind dagegen sogar noch fast alle skurrilen Plastiken erhalten. Es verschwand das ständig umlagerte hölzerne „Krokodil“ von Werner Rauschhardt und die Holzstele „Jugend im Sozialismus“ von Johannes Schulz.

Die beleuchteten kanalähnlichen Wasserspiele bieten bedauerlicherweise nun auch keinen interessanten Aufenthalt, dafür eine 2019 mit Fördermitteln errichtete Spielplatzanlage. Auch der Pavillon hat alles überstanden und erfüllt seinen Zweck für junge Menschen, die an Betreuung und Hilfe interessiert sind. 

Eingeweiht wurde dieser Park mit den jetzt erhalten gebliebenen Gestaltungselementen 1988 anlässlich eines DDR-weiten Treffens der Pionierorganisation. Jetzt hat es ich zu einer kleinen Auenlandschaft gemausert.

Just dort, wo sich oben an der Hohen Straße/Gerichtsstraße eine kleine Aussichtsplattform befindet, hat man eine gute Sicht auf ein Stück Stadt, wie sie uns vertraut ist – mit dem 1879 erbauten Gerichtsgebäude, der früheren Bücherei der St. Pauli Gemeinde, dann Schule der sowjetischen Garnison, jetzt Musikschule und in Nachbarschaft den früheren Sitz der Handwerksgewerbekammer, erbaut 1912, später das sowjetische Konsulat im Rücken. Genau dort, wo sich die Aussichtsplattform befindet, könnte es einmal einen Kaßberg-Lift geben, wie ich den Bericht in der Freien Presse über die Initiativgruppe der Partei Bündnis 90/Die Grünen deute. Und sie hat noch mehr Ideen rund um die Theaterstraße. 

Der Kaßberg-Lift hätte tatsächlich auch was für sich und für uns unermüdliche Stadtspaziergänger.

Seit dem vergangenen Jahr befindet sich am Ende der Kaßberg-Auffahrt in dem kleinen parkähnlichen Terrain um einen Gedenkstein für Dr. Richard Sorge auch eine von der Stadt Chemnitz aufgestellte Parkbank. So mancher Anwohner und Spaziergänger hat sie schon dankend angenommen, außer Puste nach der „Ersteigung“ des Kaßbergs vom Stadtzentrum aus. Ob beim Vorbeigehen die Gedanken und Erinnerungen angesichts der Gedenktafel dann auch jene schlimme Zeit des Krieges betreffen, verriet mir einmal eine Spaziergängerin, die sich an der Bank ausruhte. Sie meinte: „Die Blumen hier, das ist in Ordnung, weil es in der DDR eben auch so war. Aber war Richard Sorge nicht ein ‚Verräter‘?“ Entschuldigung, so „verquer“ ist meine Erinnerung und die der anderen Bewohner am Kaßberg nun doch nicht, oder?

Welche Gedanken hätte die Spaziergängerin wohl am Denkmal neben der Kirche in der Waldenburger Straße zur Erinnerung an die Toten des 1. Weltkrieges gehabt, hätte sie sich mit der Inschrift dieses Denkmals befasst: „Edel Frucht braucht edle Saat“.

Die ist ja nun Gott sei Dank letztlich nicht aufgegangen, auch wenn die früheren Gemeindemitglieder und Soldaten von St. Matthäus allemal eine Erinnerung wert sind. Die sind aber wahrlich mit dieser Inschrift nicht gemeint, und solche Erinnerungen braucht eigentlich keiner.

Auch in diesem Punkt gibt es viel Kontrastreiches, Widersprüchliches und Gegensätzliches in unserer Stadt, in der wir bleiben. Anscheinend im Gegensatz zur jüngeren Generation unserer Stadt.  Muss man annehmen. Sie wissen ja: „Wie soll man wissen, was ist, wenn man nicht weiß, wie es war?“ (Gerhardt Hauptmann)

 

Tipp: Skulpturen-Wiki der Stadtbibliothek Chemnitz

Die beiden Holzskulpturen hat Patrick Schulze für das Wiki „Skulpturen und Plastiken in der Chemnitzer Innenstadt“ der Stadtbibliothek Chemnitz  fotografiert. Wer Interesse an Skulpturen in Chemnitz hat oder dort sein Wissen hinzufügen möchten, findet die Seite unter www.stadtbibliothek-chemnitz.de/skulpturen/

aus VS Aktuell 1/2023, erschienen im  VS Aktuell 1/2023 Aus der Stadtgeschichte