Weichenstellung

Es poltert gegen die Tür. Ein junger Mann stolpert in den halbdunklen Schankraum der Herberge, wirft das Felleisen und ein übergroßes Bündel auf den Boden, um sich dann auf die der Tür nahe stehende Bank fallen zu lassen. Endlich! Das war eine Tour von Gotha her. Er braucht ein Nachtlager und etwas zu beißen. Morgen wird er sich umschauen. Nach einem Meister, nach Arbeit und Brot. Nicht lange will er hier verweilen. Aber Weimar, das muss sein. Als Elsässer weiß er um den berühmtesten Bürger dieser Stadt. Über 80 soll er sein und eigenwillig. Ob er ihn zu Gesicht bekommt? Und schließlich ist Sesenheim nahe seinem Heimatort Barr erst durch den Geheimrat zum Wallfahrtsort geworden.

Der Wirt ist erfreut über den späten Gast, bringt ein kräftiges Mahl. Stellt Eier mit Speck und einen Humpen Bier vor den Ankömmling. Noch ehe dieser beginnen kann, gierig zuzulangen, löst sich ein Mann aus der verdeckten Fensternische, kommt zum Tisch, nimmt ungebeten Platz.

„Lass dir’s schmecken. Ich bin Apffel. Apffel mit zwei f.“

„Ha, ein Landsmann! Der Dialekt verrät’s. Ich bin Hartmann. Richard Hartmann aus Barr“, antwortet der andere. Und fragt sofort: „Lohnt die Sache hier?“

„Wie du es nimmst. Frauenplan und Gartenhaus sind gute Adressen. Von außen allerdings. Aber Arbeit? Was bist du für einer?“

„Zeugschmied.“

„Da zieh bald weiter. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Komm von Chemnitz her. Chemnitz, das wär' das Richtige für dich.“

„Chemnitz? Für mich ein weißer Fleck.“

„Das kann sich ändern. Pass auf!“ Und Apffel erzählt wild gestikulierend von einem, der Maschinen baut, der sich in der Welt umgesehen hat. Spricht von mechanischen Webstühlen, den Engländern abgeguckt. Sensationell! „Schlag dich nach Chemnitz durch. Frag dort nach dem alten Vater Haubold und du wirst voller Dankbarkeit meiner gedenken.“

„Und Chemnitz? Ein Nest?“ Hartmann ist misstrauisch.

„Niemals! Mindestens zehn Gasthöfe, drei Brauereien, vier Marktplätze. Der Ort hat vier Tore und einen Umfang – mehr als eine Stunde. Da gibt es breite lebhafte Straßen, zum Teil sehr schöne und massive Häuser. Fast nur Ziegel- und Schieferdächer. Chemnitz ist die erste Fabrikstadt in Sachsen.“
Apffel hat sich richtig in Rage geredet und Richard ist kaum zum Essen gekommen. Schaut den Apffel von unten her an. Ein Aufschneider? Ein Schwätzer? „Ich überleg mir’s. Wann ziehst du heimwärts?“

„Morgen früh brech ich auf.“

„Nimm ein Briefchen mit. Du wirst früher als die Post vor Ort sein. Vor allem, beruhige meine Mutter. Sag ihr, die Cholera konnte mir nichts anhaben, dafür leidet mein Geldbeutel an Schwindsucht.“ Beide lachen.

„Sei mein Gast heut Abend“, schlägt Apffel vor, „ich habe in Chemnitz gutes Geld gemacht.“

Am anderen Morgen trennen sie sich als Freunde.

aus VS Aktuell 1/2023, erschienen im  VS Aktuell 1/2023 Meine Stadt