Zwei Katastrophen, auch für die Volkssolidarität

Zur 9. Stadtdelegiertenversammlung berichtete im November 2022 Ulrike ­Ullrich, Geschäftsführerin der Volkssolidarität Chemnitz, über die Auswirkungen der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine auf die Volkssolidarität Chemnitz. Für die VS Aktuell hat sie den Bericht durchgesehen und aktualisiert.

Zwei Katastrophen beeinflussten in den letzten drei Jahren nicht nur das gesellschaftliche Leben in Deutschland und der gesamten Welt enorm. Sie hatten auch unmittelbar Auswirkungen auf die Volkssolidarität Chemnitz, auf die sozialen Dienstleistungen unseres Verbandes, auf unsere Mitarbeiter und die Menschen, die sie betreuen, und auf unsere Mitglieder.

Als im Februar 2020 in einer der wöchentlich stattfindenden Abstimmungsrunden der Geschäftsführung mit den Abteilungs- und Bereichsleitern die Frage aufgeworfen wurde, wie wir mit diesem Virus umgehen werden, der in China ausgebrochen sei, fühlte sich das noch immens weit weg an. Doch wie schnell dieses Virus auch hier das Alltagsleben lahmlegt, sollten wir bereits wenige Tage später hautnah erfahren. In den Medien konnten wir verfolgen, wie das mikroskopisch kleine Wesen sich langsam auf der Weltkarte vorarbeitete. Vorsorge treffend, erstellten wir am darauf­folgenden Wochenende für unsere Ein­richtungen Ordner mit u. a. Be­triebsanweisungen, Schulungsunterlagen und Handlungsanweisungen. Und dann traf es auch uns mit voller Wucht, die erste Katastrophe, die Coronapandemie, war da. Sie prägte unsere Welt, unser Land und unser Leben so stark, dass wir die Folgen noch viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte spüren werden.

Entwicklung stationäre ­Pflegeeinrichtungen

Die pflegebedürftigen Senioren unserer Seniorenpflegeheime sind diejenigen, die die geringsten Kräfte hatten, um eine schwere Erkrankung zu überstehen. Die Bewohner steckten die Mitarbeiter an und andersherum. Anfangs war noch unklar, wie sich das Coronavirus überträgt und wie sich die Menschen davor schützen können. Daraus folgten so viele Maßnahmen, dass es schier unmöglich ist, sich heute noch an jede einzelne in allen Details zu erinnern.

Sehr gut erinnern können wir uns jedoch noch an den ersten Lockdown im Frühjahr, dem zum Jahreswechsel ein weiterer folgen sollte. Die Menschen sollten sich möglichst nicht begegnen, damit sich das Virus nicht übertragen kann. Triftige Gründe, wie zur Arbeit zu gehen – eingeschränkt auf systemrelevante Berufe, mussten nachgewiesen werden, um das Haus zu verlassen. So stellten die Mitarbeiter der Geschäftsstelle mehrmals für oft über 1.000 Mitarbeiter entsprechende Bescheinigungen aus. 

Seine Angehörigen in den Pflegeeinrichtungen zu besuchen, das war auch untersagt. Traurige Szenen an den Fenstern und in den Herzen waren die Folge. 
Viele ältere Menschen, nicht nur in den Pflegeheimen, sind sicherlich einige Jahre eher von uns gegangen, als sie hätten gehen müssen. Das hat sich massiv auf die Bevölkerungsstatistik ausgewirkt. Vormals voll belegte Pflegeheime mit Wartelisten waren plötzlich viele Monate unterbelegt.  Das wirkte sich auf die Finanzierung der Einrichtungen aus. Bis Ende Juni 2022 konnten zwar mit viel Aufwand staatliche Zuschüsse abgerufen werden, doch die entgangenen Investitionskosten, die ausschließlich die Bewohner an den Pflegeheimbetreiber zahlen, fehlen für die nicht belegten Plätze.

Auswirkungen auf die Mitarbeitenden

Unsere Mitarbeiter – was mussten sie und müssen sie noch alles leisten!

Bleiben wir zunächst in der Pflege. Die Impfpflicht in der Pflege hat sich zu einer Farce entwickelt. Besonders in Sachsen ist die Impfquote viel schlechter als in anderen Bundesländern. Doch nicht immer steckt eine Abwehrhaltung dahinter. Nicht wenige Mitarbeiter haben einen verständlichen Grund, wenn sie bspw. schlechte Erfahrungen beim Impfen gemacht oder auch durch Kollegen erfahren haben, dass einige die dritte Impfung nicht gut vertrugen.

Die Impfpflicht sollte ursprünglich verhindern, dass das Pflegepersonal das Virus verbreitet und sich die Pflegebedürftigen anstecken. Doch ihre Umsetzung kam genau zu dem Zeitpunkt, als die Verpflichtung zum Tragen des Mund-Nasenschutzes bzw. FFP2-Maske in vielen Bereichen fiel. Ab Oktober 2022 mussten alle Pflegemitarbeiter die dritte Impfung nachweisen. Bereits seit März durften wir keine Mitarbeiter und Praktikanten einstellen, die nicht voll geimpft sind und in der Einrichtung zuvor noch nicht tätig waren. Im Oktober sind viele Auszubildende fertig geworden. Ungeimpfte ausgelernte Azubis durften wir also nicht einstellen, es sei denn, sie waren bereits bei uns tätig. So orientierten sich einige um, entrückten vielleicht sogar dem Pflegeberuf. Was hat die Politik nur mit Menschen mit diesen wertvollen Berufsabschlüssen gemacht? Zumal mittlerweile erwiesen ist, dass man sich auch bei einer dritten und vierten Impfung anstecken und dadurch auch Überträger sein kann. Zudem sind zu bereits zu diesem Zeitpunkt fast alle Maßnahmen im öffentlichen Leben weggefallen. Zum 31. Dezember 2022 lief die Impfpflicht erstaunlich leise aus.

Als in Sachsen im Mai bekannt wurde, dass die Impfpflicht ein Desaster wird, hat die Liga der freien Wohlfahrtspflege Chemnitz, in der die Volkssolidarität von Anfang an vertreten ist, an den Chemnitzer Oberbürgermeister Sven Schulze appelliert, dass man human mit den betroffenen nicht geimpften Mitarbeitern umgehen möge und jeder Mitarbeiter dringend benötigt wird. Er machte das Thema zur Chefsache und hielt Wort. So wurde nicht ein einziges Betretungsverbot der Einrichtung für die Mitarbeiter ausgesprochen.

Ohnehin hat die Stadt Chemnitz in den vergangenen drei Jahren immer wieder versucht, Lösungen für die Träger zu finden. Obwohl viele städtische Mitarbeiter selbst oft an ihre Belastungsgrenze gingen, waren sie auch für uns stets gute Ansprechpartner. Die 2020 eingebrachte Aufforderung der Liga zur weiteren Finanzierung der von der Stadt geförderten sozialen Angebote entsprach man. Wir erhielten weiterhin die Fördersummen für die Begegnungsstätten und Stadtteiltreffs, wenngleich wir die vorgeschriebenen Kriterien der Leistungsbeschreibung aufgrund der coronabedingten Einschränkungen nicht erfüllen konnten. So konnten wir weiterhin einige Kosten decken und die Mitarbeiter bezahlen, die in diesen Zeiten in anderer Art und Weise für die Betreuten der Begegnungsstätten da waren. Sie erledigten z. B. für die Senioren Besorgungen, begleiteten diese zum Arzt, organisierten Impftermine oder versorgten sie mit Rätseln und Büchern. Und oft nahmen sie sich einfach die notwendige Zeit und hörten sich die Sorgen der älteren Menschen an. 

Für viele unserer Mitarbeiter brachte die Zeit enorme Herausforderungen mit sich. Sie gingen nicht nur arbeiten, sondern waren aufgrund geschlossener Kindertagesstätten und Schulen daheim noch Betreuer oder Lehrer der eigenen Kinder. Wenn es ihre Tätigkeit zuließ, dann war auch über einen langen Zeitraum hinweg Homeoffice sogar gesetzlich vorgeschrieben. Dass das sonst gewohnte Arbeitspensum vielleicht mit zwei kleinen Kindern daheim dann nicht mehr geschafft werden kann, liegt auf der Hand. Die Kollegen ohne oder mit großen Kindern mussten das dann kompensieren. 

Enormes wurde Mitarbeitern in Führungspositionen abverlangt. In persönlicher Haftung stehend, mussten sie ständig auf neue Gesetze und Vorschriften reagieren, teils an Sonntagen veröffentlicht und tags darauf geltend, innerhalb weniger Stunden Hygienekonzepte neu schreiben, Massen an Schutzmaterial besorgen, die Abrechnung von Zuschüssen vorbereiten, den Dienstplan irgendwie hinbekommen – teils fast ohne Mitarbeiter, und den Mitarbeitern extrem viel Zeit und Aufmerksamkeit schenken, die oft psychisch und körperlich stark belastet waren.

Vieles musste zentral in der Geschäftsstelle erledigt werden, wie die Abrechnung der Zuschüsse, um überhaupt finanziell überleben zu können. Eine Mitarbeiterin, glücklicherweise zum richtigen Zeitpunkt eingestellt, hat nichts anderes gemacht, als Anträge zu stellen.

Die IT-Abteilung musste zahlreiche Internetzugänge zwischen dem PC auf der Arbeit und dem PC daheim herstellen, viele Notebooks für Mitarbeiter und Tablets für die Bewohner einrichten. Auf den Internetseiten mussten ständig neue Corona-Regelungen für die Einrichtungen veröffentlicht werden. Manchmal haben wir fast den Überblick verloren, welche Regelungen denn nun für was und wen bestimmt gewesen sind, denn je nach Einrichtungsart galt etwas anderes und für den Arbeitgeber kamen dann noch separate Regelungen hinzu. Hinzu kam noch, dass unsere Mitarbeiter, die in Tschechien leben und bei uns arbeiten, plötzlich vor einer geschlossenen Grenze standen und mitunter von heute auf morgen dazu verpflichtet wurden, in den Krankenhäusern des Heimatlandes zu arbeiten …

Der Zentraleinkauf hatte mit der Beschaffung von Masken, Desinfektionsmitteln usw. alle Hände voll zu tun. Das Personalmanagement hat Verträge und Vereinbarungen noch und nöcher ausgestellt – hier vom Homeoffice bis zu Genehmigungen. Die Lohnabrechnung hat mehrmals die Pflege-Corona-Prämien bis in die Nacht hinein berechnet und ausgezahlt – ohne selbst umfänglich mit den Coronaprämien bedacht worden zu sein, denn diese fleißigen Menschen, nicht direkt am Pflegebett stehend, hatte der Staat bei solchen Maßnahmen zunächst nicht bedacht. Erst in der zweiten Stufe konnten sie geringfügig berücksichtigt werden. Es gab zwar auch die Möglichkeit der steuerfreien Corona-Zahlungen oder auch jetzt den Inflationsausgleich. Doch woher soll dafür das Geld kommen, wenn es nicht wie bei der Corona-Prämie für die Pflegenden vom Staat finanziert wird.  

Die Coronapandemie hat viel mit unseren Mitarbeitern gemacht. Sie haben sich all den Herausforderungen gestellt, haben zwei Jahre gekämpft. Doch sie haben keine Kraft mehr. Man spürt deutlich ihre Erschöpfung, die coronabedingte Doppelbelastung Arbeit und Familie. Immer auf das Ende der Pandemie hoffend, hat ihnen der Ukraine-Krieg – die 2. und nicht minder schwere Katastrophe – einfach den Mut und die Kraft geraubt. Und das ist nicht nur bei uns, sondern auch bei anderen Trägern so. Viele Menschen fühlen sich dem Stress nicht mehr gewachsen. Einige brauchen auch einfach mal eine Auszeit.

Eine Umfrage unter unseren Mitarbeiten in den Pflegeheimen ergab, dass 20 % sich eher nicht vorstellen können, bis ans Ende des Berufslebens diesen Job ausüben zu können. 30 % zeigten auf, definitiv in den nächsten Jahren aus der Pflege herauszugehen. Immer mehr wollen nicht noch mehr verdienen, wenn sie die Möglichkeit haben, sondern lieber mehr Zeit für sich und die Familie gewinnen. Auch viele Führungskräfte haben ihre Tätigkeit beendet, hielten dem Druck nicht mehr stand. 

Offene Stellen an sich sind heute nur schwer zu besetzen. War es zuvor schon schwierig, scheint die Coronapandemie noch eine Schippe draufgelegt zu haben. Und das auf dem gesamten Arbeitsmarkt. Öffnungszeiten bis 20:00 Uhr – das ist bei vielen Geschäften nicht mehr selbstverständlich. Fehlt das Personal, schließt man eher. Doch das geht in der Wohlfahrtspflege nur sehr begrenzt. Wir versorgen und unterstützen hilfebedürftige Menschen in ihrem Alltag, in unseren Seniorenpflegeheimen auch rund um die Uhr.

Herausforderungen durch steigende Kosten

Wirtschaftlich deutlich erschwerend kam der Urkaine-Kieg im Februar 2022 hinzu. Vor diesem Krieg mitten in Europa haben viele unserer Mitarbeiter, Mitglieder und Betreuten zurecht Angst. Bereits seit 2021 steigen die Preise deutlich – zunächst wegen der Coronapandemie, seit 2022 wegen des Krieges. Ob tatsächlich notwendig oder nicht – gefühlt erhöhte ein jeder seinen Preis. Das stellt für den Verein und ebenso für die Tochterunternehmen eine ganz neue Herausforderung dar. Leider lassen sich nicht in allen Bereichen die stark gestiegenen Kosten durch Kostenverhandlungen decken. Der deutlich gestiegene Mindestlohn zum Oktober 2022 tut ein Übriges. Für die Mitarbeiter kam er genau zur richtigen Zeit, denn ohne diese Untergrenze wäre ein Arbeiten zumindest aus finanzieller Sicht nicht mehr sinnvoll. Doch für die betroffenen Bereiche bedeutet dies hohe zusätzliche Kosten, die z. B. in unseren Begegnungseinrichtungen nicht mit Umsatzsteigerungen aufgefangen werden können.

Einsparungen trotz enormem Nachholbedarf

Auch unsere Kinder haben eine Menge durch. So wurden Kleinstkinder am Gartenzaun der Kindertagesstätte übergeben, da die Eltern die Einrichtung zeitweise nicht betreten durften. Und die größeren Kinder waren lange Zeit Zuhause, da ebenso wie die Kindertagesstätten auch Schulen zeitweise geschlossen waren.
Heute nachgewiesene Bildungsdefizite sind die traurige Konsequenz. Mehr Kinder als zuvor haben ihren Schulabschluss nicht geschafft. Verhaltensauffälligkeiten haben zugenommen. Und es fällt auf: Immer mehr Kinder können im Alter von vier Jahren noch nicht verständlich sprechen. Solche Folgen werden uns in den nächsten Jahren bei der Betreuung der Kinder begleiten.

Richtig ist, dass sich auch die Stadt dem Thema angenommen hat. Verwunderlich war nun jedoch, dass anhand drohender Einsparmaßnahmen gleich die Schließung von Kinder- und Jugendeinrichtung angedacht war. Und auch aus der Landes- und Bundespolitik sind die Signale mehr als nur verwirrend. Aufholen nach Corona sei wichtig, aber die Fortführung wichtiger Projekte wie die Sprachkita offenbar nicht. Dabei soll doch genau die Sprache der Schlüssel zur Welt sein. Hier sind die Bundesmittel zunächst zum Ende 2022 gestrichen und dann gerade einmal bis Mitte 2023 verlängert worden. Ist denn nicht jede Unterstützung unserer Kinder jetzt wichtig? Es kann nicht sein, dass Gelder für die Sprachförderung oder gar ganze Einrichtungen wegfallen, gerade wenn zeitgleich ein stärkerer Bedarf festgestellt wird. Die Folgen solcher Einsparungen und die damit verbundene Kosten wird unsere Gesellschaft erst später, dafür jedoch für viele Jahre tragen müssen. 

Mitgliederleben

Auch bei unseren Mitgliedern hat die Coronapandemie ihre Spuren hinterlassen. Da es den Gruppen schlichtweg über einen langen Zeitraum nicht möglich war, Veranstaltungen durchzuführen, konnten nicht so viele neue Mitglieder wie sonst gewonnen werden. Auch gab es einige Wohngruppenleitungsmitglieder, die einfach nicht mehr die körperliche Kraft hatten, das von ihnen übernommene Amt weiter auszuüben.

Dennoch: Gerade in der Coronapandemie haben unsere Mitglieder überaus viel Solidarität bewiesen. Sie standen für einander ein, halfen einander, versorgten Mitglieder, denen es nicht gut ging, hatten ein offenes Ohr für ihre Nöte und Sorgen. Sie haben einfach den Leitspruch der Volkssolidarität „Miteinander – Füreinander – Solidarität leben!“ gelebt. Sobald es möglich war, flammte das aktive Wohngruppenleben auch während der Coronapandemie auf. Gerne haben wir die zugesandten Berichte in unserer VS Aktuell veröffentlicht. Noch mehr freut uns jedoch, dass wir in den letzten Monaten immer mehr Zuschriften erhalten, die von gemeinsamen Versammlungen, Veranstaltungen und Ausflügen berichten. Sie zeigen uns: Das aktive Mitgliederleben unserer Volkssolidarität lebt wieder auf. Endlich!

aus VS Aktuell 1/2023, erschienen im  VS Aktuell 1/2023 Aus dem Stadtverband