Brücken bauen, Perspektiven teilen: Ostdeutsche  Transformations­erfahrungen einbeziehen 

Volkssolidarität referiert beim Grünen Gewerkschafts- und Sozialbeirat
 

Zukunftsthemen im Blick

Am 30. Januar 2024 fand der 5. Gewerkschafts- und Sozialbeirat von Bündnis 90 / Die Grünen im Paul-Löbe-Haus am Spreeufer statt. Sebastian Wegner, Bundesgeschäftsführer der Volkssolidarität, ist seit 2023 Mitglied im Beirat, der sich aus den Spitzen deutscher Sozialverbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler*innen zusammensetzt. Mit den Mitgliedern des Beirats diskutieren Abgeordnete der Grünen Antworten auf langfristige Herausforderungen. Es geht dabei um die Digitalisierung der Arbeitswelt, den Strukturwandel, die Transformation der Wirtschaft und um die großen Fragen rund um die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Input vom Bundeswirtschaftsminister

Das Treffen des Beirats stand diesmal unter der Überschrift Transformationen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck war als Gastredner geladen und berichtete über anstehende Transformationen und Herausforderungen des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Katharina Dröge, Fraktionsvorsitzende B 90 / Die Grünen, ging vor allem auf gesellschaftliche und soziale Folgen der anstehenden notwendigen Veränderungsprozesse ein. Frank Bsirske, Sprecher der AG Arbeit und Soziales der Grünen, moderierte die anschließende Diskussion im Plenum.

Fokus: Transformation in Ostdeutschland

Die nachfolgenden zwei Arbeitsgruppen widmeten sich sozialen und arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen in Ostdeutschland. Dr. Sophie Koch, Teamleitung Sozialpolitik des Bundesverbandes der Volkssolidarität, übernahm den Input der ­Arbeitsgruppe „Transformation – soziale Herausforderungen in Ost­deutschland“. Moderiert wurde die AG von Stephanie Aeffner MdB, mit einem Impuls von Stefan Gelbhaar MdB, dem Co-Sprecher der Landesgruppe Ost der grünen Bundestagsfraktion.

Ostdeutsche Erfahrungen in der nationalen Transformationsdebatte

Der Input der Volkssolidarität widmete sich der Frage, wie ostdeutsche Erfahrungen und Perspektiven im Transformationsgeschehen sichtbarer werden können. Sophie Koch machte deutlich, dass man bei allem berechtigten Wunsch nach Lösungsansätzen nicht umhinkomme, sich ehrlich und ernsthaft mit den Erlebnissen und Erfahrungen Ostdeutscher in der Nachwendezeit sowie der Rolle Westdeutschlands dabei auseinandersetzen müsse. Zudem schickte sie vorweg, dass es bei der Auseinandersetzung zu Ost & West nicht um den privaten Raum der Menschen in Deutschland ginge, hier sei die Deutsche Einheit in Freundeskreisen und Familie seit Jahren gelebte Realität. Vielmehr sei es wichtig zu fragen, wer den öffentlichen Diskurs in Politik und Medien zum Thema dominiere und was dieser Diskurs in Ost und West für Folgen habe.

Wer ist hier eigentlich „ostdeutsch“?

Bei aller Debatte um eine „angemessene“ Sichtbarkeit Ostdeutscher in Bundespolitik, überregionalen Medien und Wirtschaft sei eine Auseinandersetzung mit der Frage, wer eigentlich „ostdeutsch“ sei, nicht unwichtig. Hier empfiehlt sich die Lektüre der Research-Note des DeZim-Insitut von Oktober 2023: „Wer ist hier ostdeutsch, und wenn ja, wie viele? Zur Konstruktion, Wirkungsmacht und Implikation von Ostidentitäten“.

Ostdeutschsein = Anderssein

Die Darstellung Ostdeutscher in medialen Kontexten passiere noch immer zu oft in Form von „Othering“ und sei dabei viel zu oft mit negativen oder sehr klischeehaften Eigenschaften verbunden. Das zeige sich nicht nur auf Covern großer seriöser Magazine (Beispiel), sondern immer wieder auch in Zitaten westdeutscher Eliten (Beispiel). Diese Haltung gegenüber Ostdeutschen sitze bis heute tief in der (west)deutschen Mehrheitsgesellschaft. Es brauche deshalb eine radikale Desidentifizierung Ostdeutscher von diesem Bild. Dies sei auch Aufgabe der Bundespolitik, bundesweit agierender Verbände und überregionaler Medien.

Wende als kollektiver Schock

Durch die Deutsche Wiedervereinigung veränderte sich für die Menschen in der alten BRD fast nichts, für die Menschen im Osten fast alles. Steffen Mau, Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin, beschreibt in seinem Buch „Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ (2019) die Wendeerfahrungen für Ostdeutsche als die „Implosion eines Systems als kollektiver Schock, der allen Beteiligten die Endlichkeit eines Gesellschaftsbildes vor Augen führt, sie aus den gewohnten Bahnen herausreißt und kollektive Gewissheiten als Illusion demaskiert.“

Folgen der Wiedervereinigung

Dreiviertel aller Ostdeutschen hat 1994 einen anderen Beruf als 1989. Die Gebietsreformen 1990 und 2019 führten dazu, dass der Osten 3 von 4 Kommunalpolitiker*innen verlor und damit auch entscheidende mikrodemokratische Systeme, Selbstwirksamkeitserfahrungen der Bürger*innen auf regionaler Ebene. Die demografischen Entwicklungen durch Geburtenknick und Abwanderung einer ganzen Generation führen zu hoher Überalterung und Unterjüngung insbesondere der ländlichen und strukturschwachen Räume in den ostdeutschen Flächenländern, was besorgniserregende Folgen für Arbeitsmarkt und Daseinsvorsorge nach sich zieht.

Mögliche Lösungsansätze

Die Volkssolidarität zeigte erste mögliche Lösungsansätze auf, um den Entwicklungen zu begegnen:

  • Ostdeutsche und ihre biografischen und Transformationserfahrungen sichtbar machen. Repräsentationsdefizit Ostdeutscher in Spitzenpositionen unbestritten (Deutschland: 2 %, Ostdeutschland 23 % laut 7. ARB). Für Sichtbarkeit braucht es substantielle Repräsentation ostdeutscher Entscheider*innen deutschlandweit (nicht nur im Osten). Voraussetzung: Interesse der aktiven Eliten, diese Entwicklung zu fördern, z. B. durch Netzwerke oder Nachwuchsförderung gezielt im Osten.
  • Ostdeutschsein gesellschaftlich umdeuten. DEN Ostdeutschen gibt es genauso wenig wie DEN Westdeutschen. Ostdeutsche Herkunft darf kein „Ballast“ sein oder stigmatisieren. Vor allem die regionale Vielfalt des Ostens Deutschlands muss sich im öffentlichen Diskurs widerspiegeln.
  • Politische Beschlüsse umsetzen. Beschluss der Föderalismuskommission 1992, Bundesbehörden und -einrichtungen vorrangig im Osten anzusiedeln, konsequent umsetzen. Stand 2024: 9 der 111 obersten Bundesbehörden haben Hauptsitz im Osten, alle 9 werden von „Westdeutschen“ geleitet.
  • Mehr über Förderung in lokale Netzwerke investieren. Weg vom "Abwickeln" hin zum „Selbermachen“ auf kleinster Ebene. Dafür Fördermöglichkeiten vereinfachen. Selbstwirksamkeit als zentrales Element von Teilhabe und Aktivierung der Zivilgesellschaft.
  • Vertrauen in Kommunen und lokale Lösungen. Finanzielle Ausstattung der Kommunen verbessern, auch durch Entschuldung. Stärkung lokaler Demokratie, z. B. mit lokal offiziell gewählten Verantwortlichen für bestimmte Aufgaben im Dorf.

Auftrag an Bundespolitik, Verbände und überregionale Medien

Die Sichtbarmachung ostdeutscher Erfahrungen und Perspektiven beginnt dort, wo Themen verhandelt werden: in den Bundesministerien, in überregionalen Zeitungen und Rundfunkanstalten, in den großen Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie den Gewerkschaften Deutschlands. Ostdeutsche Perspektiven kommen vor allem von Menschen, die sich selbst auch als „ostdeutsch“ verstehen. Sie werden dann gehört, wenn sie über genügend Einfluss in den Institutionen verfügen, indem sie jene Posten innehaben, die meinungsbildend sind. Bis sich hier spürbar etwas verändert, braucht es das ehrliche Interesse der gesamtdeutschen meinungsbildenden und themensetzenden Eliten, ostdeutsche Geschichte, Erfahrungen und Perspektiven in gesamtdeutschen Erzählungen und Diskussionen konsequent sichtbar zu machen.

aus VS Aktuell 1/2024, erschienen im  VS Aktuell 1/2024   Aus dem Bundesverband