Fast jede monatliche Zusammenkunft der schreibenden Senioren in der Begegnungsstätte Scheffelstraße 8 beginnt mit einem freien Gedichtvortrag von Brigitte Wunderlich. So auch am Vormittag des ersten Oktoberdienstags. Die Anwesenden danken ihr mit freundlichem Beifall für Goethes Hymne „Gesang der Geister über den Wassern“. Darauf kommt Zirkelleiterin Heidi Huß zum vorgegebenen Thema: „Tag der Einheit“. Wie hat ihn jede/jeder erlebt, wie das eigene Schicksal in den zurückgelegten 13 Jahren gestaltet. Sie berichtet, wie sie den 3. Oktober 1990 auf einem gesamtdeutschen Lehrgang zum Umgang mit Drogenabhängigen verbracht, die Ereignisse in Berlin am Fernseher verfolgt hat. Vertrauenslehrer und Streetworker aus dem Westen legten den Ostdeutschen Nelken auf die Plätze und beglückwünschten sie. Zwiespältig seien damals die Gefühle gewesen. Einige der Zuhörer bestätigen das im zwanglosen Gespräch oder mit einem geschriebenen Beitrag. Wer möchte, liest vor. Spaß gibt es bei den satirischen Versen von Günter Misch. Er spießt Gegenstände und deren Begriffe auf, die nach der Wende den Osten ungebremst überrollten, von Beate-Uhse-Shop bis Hip Hop und Wasserbett. Nach eineinhalb Stunden endet der angeregte Gedankenaustausch. Heidi Huß nennt das neue Motto für November - Herbst. Dabei sollen die Schreibenden vor allem an die Schönheiten der Jahreszeit denken, sie als Abschnitt der Besinnung annehmen. Zehn Jahre besteht der Seniorenschreibzirkel, gegründet von der Leiterin der Begegnungsstätte Waltraud Peitzsch, und der ehemaligen Deutschlehrerin Gisela Rost. Als letztere 2001 aus Chemnitz weggezogen ist, hat Heidi Huß die Regie über das knappe Dutzend Schreiberinnen und Schreiber übernommen. Ebenfalls Diplomlehrerin für deutsche Sprache und Literatur, ist sie zuvor schon als Vertreter eingesprungen, wenn ihre einstige Kollegin verhindert war. „Sie kann gut auf die Mitglieder eingehen, hat für jeden Achtung und Verständnis“, schätzt Waltraud Peitzsch ein. „Außerdem ist sie als langjähriges Mitglied des 1. Chemnitzer Autorenvereins für die Aufgabe bei uns genau die richtige.“ Geschrieben habe sie schon immer gern, sagt die heute 64-jährige von sich. In Kinder- und Jugendjahren war es das kleine Gedicht, teils sogar von einer Zeitung gedruckt. Auch Übungstexte für ihre Schüler hat sie verfasst und Kurzgeschichten veröffentlicht. Im September erschien ihr erstes Buch „Ein Klassentreffen und andere Begegnungen“. Überhaupt - Bücher sind ihr Leben. Zwei prall mit dicken und schmalen Bänden gefüllte Regale schmücken ihr Wohnzimmer. Sowohl im Elternhaus als auch in der eigenen Familie - sie ist mehrfache Omi - wurde und wird viel gelesen. Da gibt es stets neue Anregungen zum Schreiben - Erlebtes oder Erdachtes. Und das ist es, was ihr die Gemeinsamkeit mit den anderen schreibenden Senioren attraktiv macht. „Sie wollen das Erlebte, die Erinnerungen bewahren, nicht mit ins Grab nehmen. Alle haben Bezugspersonen.“ So schreibe Erich Höhne, der mit 94 älteste im Zirkel, seine Kriegserinnerungen für Kinder und Enkel auf. Ihre Nachkriegshochzeit mit Pellkartoffeln, Gurkensalat und Schrotplätzchen habe Anne Zschoche (77) für die Familienchronik festgehalten. „Dabei lesen wir ebenso vor den anderen Besuchern der Begegnungsstätte. Vor allem jedoch die heute Jungen sollen erfahren, wie es früheren Generationen ging.“ Dieses Schreiben über Vergangenes aber auch über Probleme Älterer in der Gegenwart, das sich Mitteilen mache einfach allen Spaß, so die frühere Lehrerin. Es steigere das Selbstwertgefühl. „Für mich ist es wunderbar, solche Menschen kennen zu lernen. Bei uns stimmt die Chemie. Seit ich die Leute in unserem Zirkel kenne, habe ich vorm Altwerden keine Angst mehr.“