Die gemütliche Kaffeerunde älterer Frauen ist eigentlich eine Arbeitsberatung. Vier von fünf Volkshelferinnen der Wohngruppe 073 sind zu Hildegard Lenk in die Bruno- Granz-Straße 70a gekommen – Ilse, Marlene, Anneliese und Gisela. Ellen fehlt wegen eines Termins bei der Physiotherapie. Sie haben der Gastgeberin nachträglich mit Blumen zum kürzlichen Einzug gratuliert, und die kocht jetzt Kaffee. Kuchen hat Gisela mitgebracht, die vor ein paar Tagen 81 wurde – 18, wie alle scherzen. „Esst und trinkt, ich erzähle Euch inzwischen was“, sagt Hildegard, nachdem alle am Tisch Platz gefunden haben. Das zurückliegende Jahr sei etwas holprig gelaufen, „weil wir mit der Vertreibung aus dem Paradies zu tun hatten“, schätzt die 84-jährige ein. Damit meint sie die zwangsläufigen Umzüge aus den Elfgeschossern der Wohnungsgenossenschaft Chemnitz Helbersdorf (WCH) in der Johann-Richter- und der Markersdorfer Straße, bekannt als „Stadtmauer“. Das habe die Wohngruppe mit dezimiert. Derzeit gibt es nur noch 66 Mitglieder. Aber die Frauen lassen den Kopf nicht hängen. Sie beraten unter Hildegards Vorsitz über Hausnotruf, Pflegedienst, Würdigung runder Geburtstage, die Weihnachtsfeier am 3. Dezember und die Kassierung. Zwei rechnen gleich mitgebrachte Gelder ab. Beim Gehen lädt dann Marlene alle zum Adventskaffee in ihre Wohnung in der Max- Türpe-Straße ein. „Wir müssen auf alle Fälle dafür sorgen, dass unsere Volkssolidarität, die 60 Jahre wird, weiter ihren Bestand hat“, äußerte Hildegard Lenk an diesem Oktober-Nachmittag in der Runde. Ein für sie charakteristischer Satz. So hat sie die Fäden in die Hand genommen, als der langjährige Vorsitzende der Wohngruppe, Gottfried Reichert, 2003 verstorben ist. Resolut sorgte sie mit den anderen Helfern und mit dem Stadtvorstand dafür, dass die Kassierung weiterlief. Auch das für dieses Jahr geplante Frühlingsfest und das Sommerfest fanden in der Begegnungsstätte Scheffelstraße statt. Als junge Frau von 25 baute Hildegard die Volkssolidarität im kriegszerstörten Plauen, ihrer Heimatstadt, mit auf. „Im Herbst 1945 haben wir Wärmestuben eingerichtet für Leute ohne beheizbare Unterkunft“, erinnert sie sich. Zwei Stuben, in der Straßberger und in der Neundorfer Straße, betreute sie damals direkt. Mit dem Amt für Handel und Versorgung und mit Kohlehändlern war wegen Heizmaterial ständig zu verhandeln. Auch Malzkaffee hat sie dort gekocht, wie ihre Mutter Elsa, und Suppe von der Netzschkauer Fleischfabrik ausgegeben. Selbst mit der Familie ausgebombt und bei Verwandten untergekommen, sind ihr die Anstrengungen einer Trümmerfrau ebenfalls nicht fremd. Aber sie hat immer gern gearbeitet, ohne auf die Uhr zu sehen, sagt sie von sich. Die gelernte Kontoristin war nach dem Krieg in der Vogtlandmetropole als Schreibkraft bei der Feuerwehr und bei der Volkspolizei tätig. Ab 1950 arbeitete sie dann bei der Volkskontrolle, der Arbeiter und Bauern-Inspektion (ABI), in Plauen, Berlin und Karl-Marx-Stadt. Der blieb sie selbst nach Renteneintritt noch eine Weile treu. Im Zusammenhang mit ihrer Arbeit denkt die ehemalige Inspektionsleiterin für Volksbildung, Kultur und Gesundheitswesen gern an ein wunderschönes Erlebnis nach einer republikweiten Kontrolle von Kinder- und Jugendheimen 1973. In einem Eisenbahnzug kam sie mit einem Jugendlichen ins Gespräch, der davon schwärmte, was sich in dem Heim, wo er lebte, alles verbessert hat. Leute, die Hildegard Lenk kennen, schätzen ihr Engagement, ihre Hilfsbereitschaft. Durch jahrzehntelangen Umgang mit Gesetzen und Verordnungen hat sie ein Gespür für das richtige Lesen von Paragraphen und für das Kleingedruckte in Durchführungsbestimmungen entwickelt. Damit konnte sie schon manchem, auch aus ihrer Wohngruppe, in Rechtsfragen helfen, egal ob es um die zustehende Rente, Anträge für Krankenkassen oder Wohnungsprobleme ging. Und so wird sie es weiter tun.