- Frau Thomas, gemeinsam mit den Erzieherinnen Ihrer Kindertagesstätte haben Sie einen Offenen Brief geschrieben. Können Sie kurz schildern, um was es in diesem geht?
In der letzten Zeit sind viele neue Anforderungen an die Kindertagesstätten gestellt worden. Mit dem gesetzlich festgeschriebenen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag und der Einführung des Sächsischen Bildungsplanes haben sich die Anforderungen an die Erzieher in den sächsischen Kindertagesstätten erhöht. Es wird nicht nur mehr Qualität in der Begleitung der Kinder gefordert, sondern es sind auch andere Aufgaben stärker wahrzunehmen. Vor allem die verstärkte Arbeit mit jedem einzelnen Kind und mit seiner Familie beanspruchen dabei ein hohes Engagement, viel Offenheit und vor allem viel Zeit.
Der Personalschlüssel ist jedoch gleich geblieben. Trotz der neuen, zusätzlichen Aufgaben der Kindertagesstätten steht ihnen nicht mehr Arbeitszeit bzw. Personal zur Verfügung. Das führt natürlich zu Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Aufgaben und wir haben versucht, diese Schwierigkeiten in der Praxis den Entscheidungsträgern der Politik zu schildern. Die Rahmenbedingungen für unsere Arbeit müssen den Erfordernissen dieser Arbeit angepasst werden. Erzieherinnen können nicht immer mehr immer besseres leisten, und das unter den gleichen Bedingungen.
- Geht es nicht jeder Kindertagesstätte in Sachsen so?
Prinzipiell schon. Die gesetzlichen Anforderungen und der vorgeschriebene Personalschlüssel sind für alle gleich. Die Stadt Chemnitz hat 2004 beschlossen, dass Kinder, wenn ein Elternteil nicht berufstätig ist oder sich in Ausbildung befindet, die Einrichtungen maximal 6 Stunden am Tag besuchen können.
Da viele Eltern in unserer Einrichtung von der Regelung betroffen sind, hat sich das auch stark auf den Personalbedarf und damit auf die Arbeitsstunden der Erzieherinnen ausgewirkt. Für die Berechnung des Personalbedarfes spielen die Betreuungsstunden der Kinder eine Rolle. Die Auswirkungen dieser Regelung sind bei uns auf dem Sonnenberg stärker ausgeprägt. Etwa zwei drittel unserer Kinder kommen aus einem schwierigen Umfeld. Wir arbeiten zum Beispiel mit Eltern, die sich in sehr schwierigen Lebenslagen befinden. Durch die Abhängigkeit von Hartz IV sind ständige Geldknappheit und Überschuldung ein großes Problem, welches oft noch andere Schwierigkeiten nach sich zieht. Viele Familien sind instabil und häufige Beziehungsabbrüche belasten vor allem die Kinder. In schwierigen Situationen sind Familien aber oft nicht in der Lage, den Kinder jederzeit den notwendigen Halt und Schutz zu geben.
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, gestaltet sich vor diesem Hintergrund die Elternarbeit nicht einfach. Diesen Familien muss man mit einem hohen Maß an Verlässlichkeit und viel positiver Bestätigung entgegen kommen. Wir spüren immer wieder: Es ist oft zu wenig Zeit für viele Kinder und ihre Eltern mit den vielen Problemen.
- Enthält der Offene Brief auch Vorschläge, wie sich die Situation in den Kindertagesstätten ändern könnte?
Ja. Wir schlagen zum Beispiel eine flexible Gestaltung des Personalsschlüssels für Einrichtungen in sozialen Brennpunkten vor. Des Weiteren halten wir es für sinnvoll, dass der Personalschlüssel so verändert wird, dass jede Erzieherin weniger Kinder als bisher in ihrer Entwicklung begleitet. Zudem sollten die Erzieher Arbeitsstunden haben, in denen sie nicht direkt die Kinder betreuen, sondern die für die Auswertung und Dokumentation von Bildungsprozessen, für Fallbesprechungen im Team, für Elternarbeit und Entwicklungsgespräche, für Team- und Fachberatungen, für Weiterbildung usw. notwendig sind. Zeit für so etwas ist bisher seitens der Kommunen und des Landes nicht vorgesehen.
Ganz wichtig ist uns aber auch, dass die Bedeutung und die Verantwortung der Eltern als erste und wichtige Bildungsinstanz durch die Politik weiter hervorgehoben und gefördert wird. Die Kindertagesstätten wirken als bedeutsame Ergänzung zur Bildung und Erziehung in der Familie, können diese aber nicht ersetzen und die ganze Verantwortung für die Bildung und Erziehung nicht allein tragen.
- Wer erhält den offenen Brief?
Jede Fraktion in den Land- und Stadträten hat zumeist ein Mitglied, welches sich in seiner Arbeit auf die Kinder- und Jugendarbeit und damit auch auf Kindertagesstätten konzentriert. Mit diesen Verantwortlichen möchten wir ins Gespräch kommen. Deshalb versuchen wir, den Brief persönlich zu übergeben und nicht diesen einfach per Post zuzusenden. Dadurch dauert die „Zustellung“ zwar etwas länger, wir versprechen uns davon aber mehr Wirkung.
- Vielen Dank für das Gespräch!