„Sich regen bringt Segen“ sagt ein altes Sprichwort. Das beherzigen die Teilnehmerinnen der Gymnastikgruppe, die sich jeden Dienstag von 09.30 bis 10.15 Uhr in der Begegnungsstätte Hilbersdorfer Straße 33 treffen. Wenn alle kommen können, sind sie 18. Zum zweiten Mal im Januar 2010 bewegen sich im Saal 14 Frauen. Sie gehen im Kreis, schwenken die Arme, beugen den Rumpf, üben auch mit bunten Gummibändern. Das alles zu böhmischer Blasmusik, die ‚Zivi’ Christoph angestellt hat. Die jüngste ist Annemarie Richter mit 67, die älteste Lieselotte Thomas mit 90 Jahren. Letztere turnt vor. Klein und schlank ist sie. Das schwarz-weiß-gestreifte Sweat-Shirt passt gut zu ihren schneeweißen Haaren. Sie trägt eine blaue Trainingshose mit weißen Seitenstreifen und weiße Gymnastikschuhe. In ihrer Beweglichkeit könnte man sie zehn bis zwanzig Jahre jünger schätzen. Sie gibt keine Kommandos, macht nur ab und zu eine Bemerkung. Aber alle achten genau auf sie, und wenn sie mit den Armen kreist, kreisen alle mit. Wenn sie auf den Fußspitzen geht, gehen alle im Spitzengang. Die Frage „Warum habt Ihr Euch denn gerade die Älteste als Leiterin Eures Zirkels ausgesucht ?“,beantwortet Marion Hähnel kurz: „Die bringt es am besten.“ So denken alle. Und Margot Unger ergänzt: „Die macht das schon lange.“
Lieselottes Credo lautet: „Sport ist mein Alles.“ Mit sechs Jahren wurde sie Mitglied eines Turnvereins in Ebersdorf. Nach Abschluss der Grundschule entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Rhönradfah-ren. Das hat sie mit viel Freude in der Freizeit beim Sportverein Lok Chemnitz betrieben, als sie tagsüber bei der kleinen Trikotagenfabrik Helbig lernte und arbeitete. Damit war 1944 Schluss, als sie ihren Sohn Bernd bekam. Nach dem Krieg hieß es erst einmal für die gelernte Näherin, sich und ihr Kind allein durchschlagen, bis der Ehemann Rudolf 1948 aus französischer Gefangenschaft heimkehrte. Ihre letzte Arbeitsstelle war die Textilfirma Neubauer auf der Dresdner Straße, die vor allem Damenunterwäsche herstellte. Dank ihrer schnellen Auf-fassungsgabe beherrschte sie bald alle notwendigen Tätigkeiten, auch das Zuschneiden. Sie arbeitete dort bis zur Rente im Jahre 1979.
Den Sport hat sie jedoch immer im Auge behalten. So betrieb sie seit Mitte der 60er Jahre bis 1980 wieder Gymnastik bei Lok Karl-Marx-Stadt in Hilbersdorf. Zu dieser Zeit hatte auch der DFD die Frauengymnastik entdeckt und in der Stadt viele Sportgruppen gebildet. Lieselotte, die dem DFD angehörte, leitete eine davon seit 1981 oder 1982. „Wir haben einfach mit Zetteln in den Häusern die Frauen zum Gymnastik-Abend in die Turnhalle der Ludwig-Richter-Schule eingeladen. Da waren wir überrascht, wie viele kamen“, sagt sie. Den DFD der DDR gibt es zwar nicht mehr, aber die Gymnastikgruppe in der Hilbersdorfer Schule existiert noch, und geleitet wird sie noch immer von Lieselotte Thomas. Wenn sie aufhört, fällt die Gruppe auseinander, haben ihr die Frauen gesagt. So erfüllt sie ihre selbstgewählte sportliche Aufgabe dienstags gleich zweimal, vormittags in der Begegnungsstätte der ‚Soli’ und abends in der Schulturnhalle. Fragt man sie, warum sie das tut, lautet die Antwort: „Ich mache das aus Interesse am Sport, an der Gesunderhaltung und nicht für Geld.“
„Ja, Oma Lilo ist nicht mit Geld zu bezahlen“, meint auch die Leiterin der Begegnungsstätte, Kerstin Pfeiffer. Beide kennen sich schon seit rund zwei Jahrzehnten, gehen mal zusammen spazieren und besuchen sich zum Kaffee. Und Kerstins kleiner Yorkshireterrier Flocki bekommt fast täglich die Tierliebe von Lieselotte zu spüren, wenn sie mit ihm ausgeht, damit sein Frauchen in Ruhe arbeiten kann. Kerstin hat die Ältere für den Gymnastik-Zirkel in der Begegnungsstätte gewonnen, weil sie deren Sportinteresse kannte. Und vom Beginn der 90er bis 2007 hat Lieselotte Thomas auch als Volkshelferin etwa 15 Frauen ihrer Wohngruppe kassiert, sie zu Veranstaltungen eingeladen, Geburtstagsgrüße und neueste Informationen vom Verein überbracht.
Ihre Hilfsbereitschaft und Tierliebe schätzen ebenso die Hausnachbarn in der Zeißstraße und viele Freunde und Bekannte. Gudrun Ulbricht, Leiterin der Wohngruppe 014 charakterisiert Lieselotte, die inzwischen allein lebt aber eigentlich doch nicht allein ist, als eine optimistische, lebensbejahende Frau, die auf ihre Mitmenschen zugeht. Zu ihrem 90. Geburtstag, Ende November vorigen Jahres, habe sie plötzlich zu einer der Gratulantinnen gesagt: „Ach, Du bist doch Oma geworden. Da hab ich was für Dich.“ Und gleich gab sie ihr ein Päckchen Babysachen, die sie selbst gestrickt hatte.