Turf in Chemnitz

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Pferdesport auch in Sachsen als eine Domäne des Besitzbürgertums und der Offiziers­kaste. Die elitäre Sportart fasste jedoch zunächst erst einmal in Leipzig und Dresden festen Fuß. In der Industriestadt Chemnitz fehlten da­für – von bescheidenen Reitstätten in der Nähe des späteren Bahnhofes Chemnitz-Mitte, der Reitbahnstraße und dem Garnisonsexerzierplatz an der Zschopauer Straße abgesehen – die materiellen Voraussetzungen. In dieser Situation stellte die Di­rektion der Sächsischen Maschinenfabrik ein vortrefflich geeignetes Terrain für die Anlage einer Pferderennbahn zur Verfügung. Das diente denn auch dem von gehobenen Gesellschaftskreisen anvisierten Ziel, „die dritt­größte Stadt Sachsens für die Sache des Rennsports zu erobern“. Das Areal mit einer Fläche von „80 Acker“ (etwa 44.000 m²) lag auf den Chemnitz-Wiesen unterhalb der seinerzeitigen Glösaer Teiche, etwa auf Höhe der ehemaligen Further Schule. Das zwischen der früheren Eisenbahnlinie Chemnitz-Rochlitz und der Strecke von Chemnitz nach Leipzig genutzte Terrain wird jetzt gewerblich genutzt.

Unter der Leitung des Chemnitzer Architekten und Baumeisters Friedrich Oscar Ancke entstand eine Pferderennbahn, die der von Dresden absolut ebenbürtig war. Ihre Bahnlänge betrug 1.600 Meter. Die überdachte Tribüne mit 500 Plätzen war an der Nordseite errichtet worden. Unter ihr befanden sich Wagenräume, Umkleide- und Geschäftszimmer und ein Restaurant sowie die Räume für den Totalisator zu den Pferdewetten. Eine zweite Tribüne befand sich im Innern der Rennbahn. Hinter der Haupttribüne befanden sich Pferdestallungen mit 40 Boxen und ein Parkplatz. Insgesamt wurden Zuschauerplätze für 20.000 Personen geschaffen. Die Bewirtschaftung der Anlage hatte die Actien-Lagerbier-Brauerei zu Schloß-Chemnitz übernommen. Die Restaurationszelte versorgte die Gaststätte „Bellevue“, um den Imbiss kümmerte sich das Gasthaus „Thiergarten Scheibe“.

Das erste Pferderennen fand am 22. September 1895 statt. An dem Rennen nahmen Rennställe aus Bayern, Österreich, Preußen, Sachsen und Württemberg mit 53 Pferden teil. Es wurden sieben Rennen, davon drei Hürden- und vier Jagdrennen, über Distanzen von 1.000 bis 4.000 Meter geritten. Dafür waren Preise in Höhe von 12.300 Mark und vier Ehrenpreise ausgesetzt. Die Eintrittspreise lagen zwischen 5 Mark (nummerierter Logenplatz) und 0,58 Mark(Ringplatz). Totalisatorbillets kosteten 5 Mark. Durch das Entgegenkommen der Generaldirektion der Sächsischen Staatseisenbahnen wurde eine direkte Verbindung zwischen dem Hauptbahnhof und dem Rerinplatz durch Sonderzüge hergestellt. Das Rennen verzeichnete 17.000 Besucher. Der Wettumsatz betrug 36.000 Mark.

Per 1. Juli 1898 erfolgte die Rücknahme des Terrains durch die Sächsische Maschinenfabrik, der Abriss der Anlage und damit war auch das Schicksal der kurzzeitigen regulären Chemnitzer Pferderennbahn besiegelt. Späteren Versuchen auf der Radrennbahn in Altendorf blieb der vormalige Erfolg versagt. Es blieb fortan nur noch der Reitunterricht in sogenannten Tatersalls in der Aue 7 und in der Zschopauer Straße 49. Erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer Wiederbelebung des Chemnitzer Reitsports durch die Veranstaltung von Turnier-Reiten in der ehemaligen Ka­serne der Kaiserulanen in der Planitzstraße, heute abgebrochen, und so­ genannte Fuchsjagden auf dem ehemaligen Flugplatz an der Stollberger Straße, heute bebaut. Mitte der 1920er Jahre unternahm der Verband für Reit- und Fahrsport große Anstrengungen, gestützt auf das Engagement seiner Mitglieder, in der Nordstraße 36 ein eigenständiges Reithaus zu errichten, das am 9. April 1927 feierlich eingeweiht wurde. Heute ist das einstige Areal in die Volkswagen Zentrum Chemnitz GmbH integriert.

Von der Historie des Chemnitzer Reitsports sind alle materiellen Sach­zeugen verschwunden. Geblieben sind nur noch die Ortsbegriffe Reitbahnstraße und Reitbahnviertel.

aus VS Aktuell 2/2013, erschienen im  VS Aktuell   VS Aktuell 2/2013 Aus der Stadtgeschichte