Wir dürften wohl wortwörtlich Geschichte geschrieben haben, Politgeschichte. Was für Außenstehende der Wählervereinigung eventuell etwas befremdlich wirken könnte, u. a. weil die Medien in sehr unterschiedlicher Qualität darüber berichtet hatten, zeugt bei näherer Betrachtung von dem ernsthaften und nachvollziehbaren Hintergrund unserer etwas ungewöhnlichen Aktion.
Unsere Wählervereinigung will die Bürger tatsächlich in die Kommunalpolitik einbeziehen. Wir reden nicht nur davon! Was war also geschehen, dass plötzlich sämtliche regionalen Zeitungen, Funk und Fernsehen über das Oberbürgermeister-Casting der Chemnitzer Wählervereinigung Volkssolidarität berichteten? Wie kam es überhaupt zu dieser Aktion?
Die Idee
Zum Jahresende 2012 besuchte mich ein junger Bürger. Dabei berichtete er mir, dass er sich für die Oberbürgermeisterwahl, welche im Juni 2013 ansteht, interessiert. Er wolle sich gern für diesen Posten bewerben. Ich war über sein Ansinnen erstaunt, denn als ich fragte, was für Erfahrungen er in der Führung einer Kommune vorzuweisen hätte, meinte er, dass er gerade keine Arbeit habe. Nun wollte ich es wissen – nicht, dass ich gerade einem eigenartigen Scherz auflaufe. Ich fragte also weiter nach, was ihn zu der Annahme bringt, für dieses wichtige Amt geeignet zu sein. Er lese gern Zeitung und da steht doch so ziemlich alles Wichtige drin, antwortete er. Immer noch unschlüssig über den tatsächlichen Anlass und das Ziel des Besuchs sprach ich ihn darauf an, wie er denn gedenkt, künftig die Bürgermeister und die Stadtratsitzungen führen zu wollen. Er meinte, dass wisse er noch nicht, auch habe er noch nie eine solche Sitzung besucht. Nun war mir klar, dass der Mensch sich maßlos überschätzt und sich der Tragweite seines „Berufswunsches“ gar nicht bewusst schien. Ich musste daraus erkennen, dass ich gerade meine wertvolle Zeit in ein „scheinbar sinnloses“ Gespräch investiert hatte. Kopfschüttelnd beschäftigte mich die Unbedarftheit des jungen Menschen jedoch noch eine ganze Weile. Da kam es mir in den Sinn, dass man den „Spieß“ umdrehen müsste. Warum nicht noch weitere Gespräche zur Thematik Oberbürgermeisterwahl führen, jedoch mit dafür geeigneten Menschen. Doch wie kommt man an diese nur heran? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Es sollte aber noch eine Weile dauern, bis ich mich entschloss, den engsten Mitstreitern unserer Wählervereinigung davon zu erzählen.
Der Vorschlag kam gut an und ein Konzept wurde entwickelt: Bei der Suche nach unserem Kandidaten sollte – im Gegensatz zu den Parteien – die Bevölkerung einbezogen werden. Mit einer Anzeige im Stellenteil der Freien Presse riefen wir dazu auf, sich bei uns als OB-Kandidat zu bewerben. An eine Partei durften die Bewerber nicht gebunden sein und ernst meinen sollten sie ihre Bewerbung. Eine Jury sollte dann die interessantesten Kandidaten auswählen, die sich dann bei einem öffentlichen Auswahlverfahren der Jury und dem Publikum stellen sollen. Am Ende des Abends sollte ein Kandidat feststehen, der mit unserer Unterstützung in den Wahlkampf ziehen wird.
Die Jury
Für die Mitarbeit in der Jury konnten wir gewinnen:
- Rolf Drechsler, im Ruhestand, zuvor Geschäftsführer einer Wohnungsbaugesellschaft
- Pia Hamann, Mitarbeiterin der Stadtverwaltung, zuvor Sozialarbeiterin und Frauenbeauftragte der Stadt Chemnitz, vielfältige ehrenamtliche Tätigkeiten
- Ursula Hennig, Leiterin des Fachgebietes Kindertagesstätten bei der Volkssolidarität Chemnitz
- Stephan Kämpf, Streetworker, Vorstandsmitglied des Netzwerk für Jugend- und Kulturarbeit e. V.
- Dr. med. dent. Andreas Rocktäschel, Zahnarzt und interessierter Bürger
- Yvonne Weber, Dipl.-Soziologin, Stadträtin
- Andreas Wolf, Leiter der Fachgebiete Begegnungsstätten und Mitgliederbetreuung bei der Volkssolidarität Chemnitz, Stadtrat
Die Kandidaten
Insgesamt 7 Bewerbungen aus der Bevölkerung sind bei uns bis zum Einsendeschluss eingegangen. Die Unterlagen wurden von der Jury gesichtet. Mit einzelnen Bewerbern konnten auch Vorgespräche geführt werden. Zwei Bewerber haben noch kurz vorher ihre Bewerbung zurückgezogen, so dass sich zu unserer öffentlichen Auswahlveranstaltung am 7. April im Schauspielhaus fünf Kandidaten dem Urteil der Jury und des Publikums stellten:
- Dr. jur. Torsten Fischer (36), Jurist
- Peter Fritzsche (60), ehemals Stadtrat der CDU-Fraktion, danach parteilos, Mitarbeiter Wirtschaftsdienste
- Ute Herrmann (49), stellvertretende Restaurantleiterin
- Marcus Neiser (32), ehemals Mitbetreiber und Leiter von verschiedenen Restaurants und Clubs, jetzt „freischaffender Bohème“
- Hans-Jürgen Rutsatz (52), Rechtsanwalt.
Das Ergebnis
Die Kandidaten stellten sich den Fragen des Moderators Dietmar Holz, des Publikums und auch der Jury. Letztendlich galt es, zwei Empfehlungen für die noch gemäß den Forderungen der Wahlbehörde notwendige geheime Wahl des OB-Kandidaten durch die Wählervereinigung zu erhalten. Bei der Publikumsbefragung konnte sich Marcus Neiser zwar sehr knapp gegenüber Hans-Jürgen Rutsatz durchsetzen, die Wählervereinigung folgte jedoch der Empfehlung der Jury. Diese sah bei Rechtsanwalt Rutsatz aufgrund seiner Erfahrungen mehr fachliche Kompetenz für die Führung einer Stadtverwaltung mit etwa 3.000 Mitarbeitern.
Danke!
Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei all denjenigen bedanken, die uns bei unserem ungewöhnlichen Vorhaben unterstützt haben. Ich danke dem Moderator Dietmar Holz, der sein Honorar einer guten Sache spenden wird. Ich danke den Mitgliedern der Jury, die uns tatkräftig bei der Vorbereitung und der Durchführung der Veranstaltung unterstützt haben, und ich danke den Kandidaten, die sich dem Urteil von Jury und Publikum mutig gestellt haben. Einige Jurymitglieder und auch einige Kandidaten haben übrigens ihr Interesse daran bekundet, gemeinsam mit uns nächstes Jahr in den Kommunalwahlkampf zu ziehen. Wenn schon nicht Oberbürgermeister, dann eben Stadtrat, so lautet die Devise. Besonders danken möchte ich den Mitstreitern der Wählervereinigung und unseren Unterstützern im Hintergrund, die durch ihre Spenden die Veranstaltung erst ermöglichten.
Die Medienresonanz
Die Medien haben im Vorfeld sehr umfangreiche Informationen erhalten. Auch am Tag der Veranstaltung waren sie ständig präsent. Mancher scheint es jedoch nicht so mit der sachlichen Berichterstattung zu halten. Besonders ein Fernsehsender, von welchem wir bisher einen eher seriösen Eindruck hatten, enttäuschte uns, da ein Beitrag sehr nachteilig geschnitten wurde, sodass dem unwissenden Zuschauer ein eher lächerlicher Eindruck von unserer Aktion vermittelt wurde.
Die Unterstützungsunterschriften
Damit unser OB-Kandidat Hans-Jürgen Rutsatz zur Wahl zugelassen wird, mussten wir bis zum 20. Mai noch 200 Unterstützungsunterschriften sammeln. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe der VS Aktuell lag das Endergebnis noch nicht vor. Das Ziel haben wir laut mündlicher Auskunft des Wahlamtes schon erreicht.
Warum müssen wir jedoch Unterstützungsunterschriften sammeln, wo doch der Leiter der Wahlkommission (Bürgermeister Berthold Brehm, CDU) noch wenige Tage zuvor in der „Freien Presse“ bestätigte, dass wir als im Chemnitzer Stadtrat vertretene Wählervereinigung davon befreit sind?
Die Wahlbehörde teilte uns mit, dass es laut § 6b des Gesetzes über die Kommunalwahlen im Freistaat Sachsen (KomWG) eine Kleinigkeit zu beachten gibt. Er besagt, dass beide zum Zeitpunkt der letzten Kommunalwahl für die Wählervereinigung gewählten Stadträte diesen Wahlvorschlag unterzeichnen müssen. Es ist dabei völlig unrelevant, dass sich Steffi Barthold nach der Wahl von uns losgesagt und an die SPD-Fraktion angegliedert hat. So unglaublich es auch ist, wir sind laut Wahlbehörde trotz alledem auf ihre Unterstützung angewiesen. Ich war also veranlasst unsere ehemalige Stadträtin zu überzeugen, uns nicht erneut im Stich zu lassen. Zu unserer Freude willigte sie ein, doch trotz mehrfacher Zusage wurden wir zwei Wochen später von ihr vor die Tatsache gestellt, dass sie dem Gesuch nun doch nicht nachkommen werde. Da liegt natürlich die Frage nahe, ob wir damit bewusst hingehalten worden sind. Wir hätten sonst den vielen Menschen, welche sich für Hans-Jürgen Rutsatz im Casting entschieden haben, noch während der Veranstaltung im Schauspielhaus gebeten, ihre Unterschrift im Rathaus zu leisten.
Das Wahlprogramm
Unser OB-Kandidat erwies sich als Glücksgriff. Er hat bisher nicht nur Sachverstand bewiesen, sondern ist auch mit viel Engagement in den Wahlkampf gezogen. Nach nur wenigen Tagen präsentierte er uns ein Wahlprogramm, welches wir nur an wenigen Stellen ergänzt haben – übrigens mit Unterstützung einiger Jurymitglieder. Kurzerhand fragten wir den DGB, ob wir uns auch bei der Kundgebung am 1. Mai auf dem Neumarkt präsentieren können und bekamen eine Zusage. Dort konnten wir das Programm interessierten Bürgern geben und mit ihnen ins Gespräch kommen.
Der Wahlkampf
Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist der Wahlkampf womöglich schon vorbei und der neue Oberbürgermeister steht schon fest. Aber vielleicht bleiben ja noch ein paar Tage bis zur Wahl – oder bis zum möglichen zweiten Wahlgang Ende Juni. Daher möchten wir Sie an dieser Stelle aufrufen: Unterstützen Sie uns in unserem Wahlkampf! Sie können bspw. Material verteilen oder auch nur Ihren Freunden und Bekannten unseren Kandidaten empfehlen. Und wenn es dafür doch schon zu spät ist, dann rufen wir an dieser Stelle Sie gleich dazu auf, uns nächstes Jahr zu unterstützen. Am 25. Mai 2014 wird ein neuer Stadtrat gewählt und wir wollen dann nach dem Sommer zumindest in Fraktionsstärke im Stadtrat vertreten sein und uns für die Interessen der Chemnitzer Bürger einsetzen. Weitere Informationen hierzu können Sie auf unserer Internetseite unter www.vosi-chemnitz.de finden.
Das Fazit
Ganz unter uns gesagt: Das, was ich persönlich mit der Umsetzung der mich fesselnden Idee zutiefst gehofft, aber selbst kaum für möglich gehalten hatte, ist nun tatsächlich eingetreten! Wir sind quasi über Nacht zu einem eigenen OB-Kandidaten gekommen. Oder er zu uns. Auf jeden Fall müssen wir jetzt die recht spektakuläre Geschichte auch erfolgreich fortführen. Es liegt in unserer Hand.
Bitte geben Sie am 16. Juni unserem Oberbürgermeisterkandidaten Hans Jürgen Rutsatz Ihre Stimme.