Am 10. Oktober 2015 fand in Zwickau zum 8. Mal die sächsische Armutskonferenz statt. Veranstalter war – wie in den Vorjahren – die Landtagsfraktion der Partei „Die Linke“.
Der Saal im „Best Western“-Hotel war gut gefüllt. Ca. 70 Vertreter von Vereinen, Beratungsstellen und Wohlfahrtsverbänden lauschten den vier Input-Referaten, die aus unterschiedlicher Sicht die Problematik der Sozialgesetzgebung und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und das Teilhaben-Können am gesellschaftlichen Leben beleuchteten.
Ich selbst begleitete Silke Brewig-Lange vom Seniorenpolitischen Netzwerk, mit der ich gemeinsam in der Bürgerinitiative Chemnitzer City Betroffene von SGB II und XII berate. Rechtsanwältin Brewig-Lange war zudem eine der vier ReferentInnen – neben Prof. Dr. Klaus Dörre (Soziologe, Uni Jena), Susanne Schaper (MdL, Leiterin AK I SLT) und Dr. Rudolf Martens (Leiter Forschung Paritätische Forschungsstelle Berlin).
Einige Bemerkungen zum Verständnis vorweg: Am 1. Januar 2005 traten die für Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes/Grundsicherung maßgebenden Sozialgesetzbücher II und XII in Kraft. Ich selbst verwende den Begriff Hartz IV nur ungern, wenn er auch üblich ist. Immerhin ist Peter Hartz strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden – jedoch nicht wegen der unter seiner Leitung erarbeiteten Gesetzbücher. Die damals und auch die heute Regierenden beglückwünschen sich zu dieser Reform, die tatsächlich den Arbeitsmarkt in Deutschland grundlegend verändert hat. Die davon Betroffenen sehen dagegen keinen Grund, in diesen Jubel einzustimmen: Für sie haben sich die Lebensbedingungen wesentlich verschlechtert. Armut in Deutschland wächst – trotz sinkender Arbeitslosigkeit und steigender Nominallöhne. Und ja, Armut in Deutschland ist relativ. Absolut arm gilt weltweit, wer maximal 1,25 $ pro Tag und Person zur Verfügung hat. Relativ arm ist, wer weniger als 50 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens (Medianeinkommen) eines Landes erzielt. Daneben gibt es noch die gefühlte Armut – erlebte gesellschaftliche Ausgrenzung, weil Mensch sich neben Lebensnotwendigem nur wenig Anderes leisten kann (World Vision Institut). In der Bundesrepublik liegt der Schwellenwert für Armutsgefährdung bei 968,50 € netto monatlich je Haushalt, inzwischen ist ca. jeder Fünfte von Armut oder/und sozialer Ausgrenzung betroffen (statista.com). Vereinfacht kann gesagt werden, dass jeder, der etwa 750 € im Monat zum Leben hat, arm ist. Und für jemanden, der ca. 850 € Rente bezieht oder dafür Vollzeit arbeiten geht, ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch lange nicht gesichert.
Zurück zur Konferenz: Rico Gebhardt, Vorsitzender der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, und Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion, gingen kurz auf die Situation in Deutschland bzw. Sachsen ein. So sprach Rico Gebhardt von einer Bedrohung des sozialstaatlichen Modells durch Hartz VI (m. E. wäre Abbau erkämpfter sozialer Errungenschaften deutlicher gewesen) und Sabine Zimmermann verwies u. a. auf den Anstieg der Zahl als arm bezeichneter Menschen von 15 Millionen 2005 auf 16,2 Millionen 2013. Im Anschluss entschuldigte sich Horst Wehner (Landesvorsitzender des VdK) für den lange geplanten Termin – schließlich fand an diesem Tag die Demonstration gegen TTIP und CETA in Berlin statt (mit 250000 Teilnehmern!) –, aber das Thema sei ebenso wichtig. Natürlich!
Als erster Referent sprach Prof. Klaus Dörre zum Thema „Von Disziplin bis Stigma – Soziale Folgen ‚aktivierender‘ Arbeitsmarktpolitik“. Sein Fazit war alles andere als positiv für die sogenannte Arbeitsmarktreform: Für ihn bedeutet Hartz IV vollständige Fremdbestimmung für Betroffene. Arbeitssuchende werden durch das SGB II in erster Linie stigmatisiert – als nicht arbeitswillig. Seine Untersuchungen (und meine Erfahrungen aus Beratungen) ergeben das Gegenteil: Die Allermeisten wollen arbeiten. Nur kann eben nicht jeder alles tun: Qualifikation, Alter, Gesundheit, Arbeitsort usw. – konkrete Arbeitsangebote sind für den Einzelnen kaum passgerecht. Entscheidender Effekt für den Arbeitsmarkt: Der Druck auf die Beschäftigten, sich verschlechternde Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, wächst. Und so bildet sich eine Art exklusive Solidarität heraus: unter denjenigen, die Arbeit haben und „gut“ verdienen. Gerichtet ist diese Solidarität gegen die „Anderen“ da „unten“, also die, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind.
Noch einige Ergebnisse seiner Untersuchungen: Der Niedriglohnsektor ist am schnellsten expandiert, die Reproduktionstätigkeiten (im bildenden, sozialen, pflegenden Bereich) – sogenannte Humandienstleistungen – sind vorwiegend prekär, die Zahl der Arbeitsstunden je Arbeitnehmer ist von 1991 bis 2013 von 1.473 auf 1.313 zwar insgesamt gesunken, aber sehr unterschiedlich verteilt. Dass niedrige Arbeitseinkommen letztlich niedrige Renten nach sich ziehen, musste nicht extra erwähnt werden. Heutige Arbeitsarmut zieht Altersarmut nach sich.
Susanne Scharper wandte sich im Anschluss unter dem Thema „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – Verhältnisse und Verhalten in Sachsen“ der Situation im Freistaat zu, wobei es ihr weniger um Zahlen und Fakten ging, die auch anderswo nachlesbar sind. Wichtiger war ihr, die Selbstzufriedenheit der Staatsregierung mit ihrer (Sozial-)Politik im Kontext des Lebensalltags vieler Betroffener zu kritisieren. Die tatsächlichen Probleme vieler Sachsen mit den konkreten Auswirkungen werden von den politisch Verantwortlichen oft genug negiert, Betroffene von SGB II und XII – wie von Prof. Dörre beschrieben – stigmatisiert, Lösungsansätze der politischen Opposition ignoriert. Ohne außerparlamentarischen Druck auf die Regierung wird diese ihr bisheriges Agieren nicht ändern.
Nach der Mittagspause wies Rechtsanwältin Silke Brewig-Lange (SPN Chemnitz) in ihrem Vortrag „Recht haben und Recht bekommen – die Probleme der Rechtsdurchsetzung“ auf die juristische Seite der Sozialgesetzgebung hin. Leistungsansprüche nach SGB II bzw. XII durchzusetzen, ist für Betroffene ziemlich schwierig – und nicht selten existenziell. Leistungskürzungen aufgrund geringer Vergehen trifft die gesamte Bedarfsgemeinschaft – also auch Kinder. Nicht in jedem Fall hilft ein Eilantrag. Kosten der Unterkunft (Miete) werden nicht immer in voller Höhe übernommen, der Begriff „angemessen“ ist eben eher schwammig und die „Richtlinien“ in den meisten Kommunen berücksichtigen wie in Chemnitz nicht die tatsächlichen Mieten, insbesondere bzgl. Nebenkosten. Viele Betroffene scheuen den Gang zum Gericht, der oft Zeit braucht und Nerven kostet und das Problem nicht zeitnah löst. Aber Widerstand lohnt sich: Die Mehrheit der Klagen wird im Sinne der Betroffenen entschieden.
Als letzter Redner plädierte Dr. Rudolf Martens vom Paritätischen „Für ein Land ohne Verliererinnen und Verlierer“. Auch er verwies wie seine Vorredner darauf, dass die vergangenen 10 Jahre Hartz IV für viele Menschen in diesem Land alles andere als eine Erfolgsgeschichte sind. Ob Kinderarmut, Altersarmut, arm trotz Arbeit – all dies ist seitdem im Steigen begriffen. Auch seine Forschungen können dies mit Zahlen belegen: So waren in Sachsen 2014 33,6 % aller Einpersonenhaushalte arm. Bei Alleinerziehenden gilt das für 46,8 %, bei RentnerInnen für 14,5 %. Die Zahlen für Ostdeutschland insgesamt weichen nur wenig ab und die für Westdeutschland nähern sich durchaus auch an.
In der anschließenden Diskussion rundete sich das Gesamtbild ab: Armut in Deutschland wächst und – entgegen der öffentlichen Darstellung – sind die Betroffenen nicht selbst daran schuld. Es sind die gesellschaftlichen Zustände, die Armut verursachen. Und zu denen gehört die Sozialgesetzgebung in ihrer Gesamtheit. Mein Fazit: Ohne gesellschaftlichen Widerstand der Betroffenen und der sich mit ihnen Solidarisierenden wird sich nichts zum Positiven ändern. Und insofern sollten die sich Solidarisierenden nicht nur über Armut und davon Betroffene, sondern noch viel mehr mit ihnen reden.