Zu den wichtigen Anliegen der Volkssolidarität zählte von Anfang an die unentgeltliche, ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Viele ältere Menschen, die gesundheitlich nicht mehr in der Lage waren, sich selbst zu versorgen, mussten auf Grund der mangelnden oder im Krieg zerstörten Pflegeeinrichtungen zu Hause gepflegt und versorgt werden.
1952 entstand aus der Nachbarschaftshilfe heraus die Hauswirtschaftshilfe, die mit 70 Pfennigen pro Stunde bezahlt wurde.
Laut einer Richtlinie des Zentralausschusses der Volkssolidarität wurde 1966 die Hauswirtschaftspflege zur erstrangigen Aufgabe erklärt.
In der Zeitschrift „Volkshelfer“ vom Januar 1981 war zu lesen:
„Zahlen und Fakten:
- In Karl-Marx-Stadt gibt es 864 Hauswirtschaftspflegerinnen, die 1.227 ältere Bürger betreuen.
- Im ersten Halbjahr 1980 leisteten sie 358.717 Stunden.
- Die Hauswirtschaftspflegerinnen sind in 30 Brigaden vereint, die alle nach einem Wettbewerbsprogramm arbeiten. Elf Brigaden wollen den Titel ‚Kollektiv der hervorragenden Solidaritätsarbeit‘ erringen beziehungsweise verteidigen.
- In der Stadt werden 3.785 Betagte mit Mittagessen versorgt; 723 Essen werden in die Wohnungen gebracht.
- Zum Stadtbezirk Mitte-Nord gehören 467 Hauswirtschaftspflegerinnen, die sich um 608 Rentner kümmern. Es bestehen 12 Brigaden, dazu zählt die Brigade Hoppe, schon mehrfach als ‚beste Brigade‘ geehrt.
- Im Stadtbezirk gibt es große Bemühungen, um die gegenwärtig noch 37 offenen Anträge auf eine Betreuung von Rentnern durch Hauswirtschaftspflegerinnen berücksichtigen zu können.“ (Volksshelfer 1, Monatsschrift der Volkssolidarität, Januar 1981, S. 9)
Eine dieser Hauswirtschaftspflegerinnen war Ingeborg Richter, Jahrgang 1924, geboren in Chemnitz. Heute lebt die 91-Jährige in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Schlosschemnitz. An manches aus jener Zeit kann sie sich erinnern …
Nach einer Lehre als Verkäuferin war sie in der Lebensmittelabteilung des HO-Zentrumwarenhauses (ehemals Kaufhaus Schocken) tätig, kurze Zeit später wurde sie Näherin in der Lederhandschuh-Fabrik in der Nordstraße in Karl-Marx-Stadt. Nach der Geburt der Tochter machte sie zunächst Heimarbeit. Mitte der 60er Jahre half sie ihrer Schwester bei der Pflege des schwerkranken Schwagers und kümmerte sich um ihr Enkelkind.
1974 kam Inge Richter durch ihre Schwester zur Volkssolidarität, arbeitete von nun an als Hauswirtschaftspflegerin in der Brigade von Ilse Hoppe im damaligen Stadtbezirk Mitte-Nord. Diese Brigade bestand aus 38 Hauswirtschaftspflegrinnen. Es war eine der besten Brigaden, die den Titel „Kollektiv der hervorragenden Solidaritätsarbeit“ errang.
„Viele Menschen sagten damals, was die Volkssolidarität da macht, das muss doch eine gute Sache sein.“ Und so packte Ingeborg Richter mit an und half, wo sie konnte. Seit Anbeginn kümmerte sie sich um Menschen, die einer besonderen Fürsorge bedurften.
Dabei leiste sie oft mehr, als das übliche Pensum der Arbeit einer Hauswirtschafterin, lobte sie damals Ilse Hoppe.
Ingeborg Richter absolvierte einen Lehrgang „Häusliche Krankenpflege“ beim DRK. Es gab zwar Gemeindeschwestern, die sich um die medizinische Versorgung kümmerten, aber Kenntnisse über verschiedene Krankheitsbilder, Umgang mit Medikamenten und Krankenpflege waren für Hauswirtschaftspflegerinnen, die sich zudem zeitintensiver kümmerten und sogar an Wochenenden da waren, eine wichtige Voraussetzung für diesen Beruf.
Zu den Aufgaben einer Hauswirtschafterin gehörten u. a. die Wohnungsreinigung, Einkäufe und Wege erledigen, die Versorgung mit Mahlzeiten und natürlich, sich Zeit für Gespräche mit den Betreuten zu nehmen.
Täglich wurden über 4.800 Senioren durch die Volkssolidarität mit einem Mittagessen versorgt. Das Essen wurde in den volkseigenen Betrieben gekocht und sowohl im Betrieb an die Seniorinnen und Senioren als auch an die Mitarbeiter der Volkssolidarität zum Austragen ausgegeben.
Zwischen 1972 und 1986 stiegen die Portionszahlen von 952 auf 5.233. Oft reichten die Kapazitäten nicht aus, sodass die Senioren das Essen im Wechsel in Anspruch nehmen mussten.
„Für mich waren die Wege zu den Betriebsküchen zu weit und ehe das Essen bei den Betreuten war, war es kalt und musste erneut aufgewärmt werden. So habe ich täglich für meine beiden Betreuten selbst gekocht.“, erinnert sich Ingeborg Richter.
Einmal verzichtete sie auf eine Urlaubsreise, um ihre Betreuten, die an sie gewöhnt waren, nicht allein zu lassen.
Später übernahm sie bei einer der Seniorinnen, die ans Bett gefesselt war, in Absprache mit ihrer Brigadierin zusätzlich die Erledigung der Geldgeschäfte. Immer korrekt rechnete sie ab und wirtschaftete sehr sparsam, sodass sie mit dem übrigen Geld für den behinderten Sohn der Patientin ein Sparbuch einrichten konnte, dass ihm nach dem Tod der Mutter einen Aufenthalt in einer Behinderteneinrichtung in Altendorf und später in einem Pflegeheim ermöglichte.
„Für andere da zu sein – das steckt in einem drin und es hat Freude gemacht und mich bis heute jung erhalten“, sagt sie.
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre wurde ihr von der Volkssolidarität das „Ehrenzeichen für vorbildliche Nachbarschaftshilfe“ überreicht, eine Auszeichnung, die von der Nationalen Front für hervorragende Arbeit in der Nachbarschaftshilfe verliehen wurde.
Vor etwa 15 Jahren wurde ihr Mann, der ihr in jenen arbeitsreichen Jahren oft zur Seite stand, selbst ein Pflegefall. Ingeborg Richter kümmerte sich aufopferungsvoll um ihn. Wer hätte es besser gekonnt.
Damals und nach Eintritt in den Ruhestand nimmt sie am Leben ihrer Wohngruppe teil. Da sie jetzt nur noch selten rauskommt, besucht sie Hannelore Goretzky, die Leiterin der Wohngruppe 010, in regelmäßigen Abständen zu Hause.
Seit Ingeborg Richter zu Hause ist, ist das Stricken ihr Hobby. Unter dem Licht einer Stehlampe verbringt sie so manche Stunde, in der kleine und große Werke entstehen. Das ist für sie nicht nur geistige Beschäftigung, sondern schult die Beweglichkeit der Hände, die immer etwas zu tun haben müssen.
Damals, 1981, sagte sie dem Reporter der Zeitschrift über ihre Arbeit als Hauswirtschafterin: „Wenn man so eine Aufgabe übernimmt, so muss man das mit aller Konsequenz tun, auch opferbereit sein. Jemanden helfen – das füllt mich aus, das macht mich einfach reich.“