Lebendes Glas

Die Bäderstadt Karlovy Vary habe ich im journalistischen Auftrag einige Male besucht. Gern erinnere ich mich an meine Recherchen in der weltberühmten Moser-Glashütte. Das war im Sommer 1979. 

„Das Glas muss leben, wenn man es formen will“, sagte der damalige Meister Ondrej Madiara zu mir. Auf der Ofenbühne, wo ich ihn interviewte, war es mehr als gemütlich warm. Behutsam drehten er und sein Gehilfe Eduard Woratsch die stählerne Glasmacherpfeife, die mit dem vorderen Teil in einer eisernen Gabel lag. Mit dem „Svalak“, einer Art Kelle aus schwarz gewordenem Buchenholz, gab der Meister dem glühenden Glasballon vorn am Ende der Pfeife die gewünschte Form. Dabei musste der Gehilfe ab und zu stärker oder nicht so stark in das Mundstück aus Messing blasen. Dritter im Bunde vor dem Ofen war der Kölbelmacher Zdeněk Vegrich. Von den Dreien war er der Jüngste und damals auch erst sechs Jahre in der Hütte. Die beiden anderen arbeiteten da schon 32 und 28 Jahre im Betrieb. Am Glas war Vegrich jedoch der erste, leistete mit Geschick die Vorarbeit. In der durch ein relativ großes Ofenloch sichtbaren Pfanne (in der Glasmachersprache auch Hafen), waberten 300 Kilogramm gläserne Lava. Hier herrschten 1.250 Grad Celsius. Dahinein drückte Zdeněk das Stahlrohr. Mit ein paar Drehbewegungen hat er einen Klumpen von einem halben bis zu einem Kilo Masse, den Kern, herausgeholt. Unter leichtem Blasen und Drehen hat er dann den gewünschten kleinen Kolben, das „Kölbel“, gefertigt, um es mitsamt der Pfeife dem Gehilfen zu reichen. Je nach Bedarf hat der noch Glasmasse aus der Pfanne dazu genommen. Nun ist das Zusammenspiel zwischen Meister Madiara und Eduard Woratsch wieder losgegangen. Ist das „Kölbel“ gut gewesen, konnte aus dem Ganzen ein ordentliches Stück werden. Bei meinem Besuch haben Meister und Gehilfe ihrem Kölbelmacher Talent bescheinigt. Alle drei waren gut aufeinander eingespielt, sind flink mit den stählernen Blasrohren, gedrechselten Buchenholzformen und Stahlscheren, sogenannten Einschneidern, umgegangen. Sie haben sozusagen die Urformen der blitzenden Vasen, Schalen und Kelche geschaffen. Und dann hatten wir alle auch etwas zu lachen, als sie mich meine „Glasbläserkünste“ ausprobieren ließen. Dabei kam vorn zu der Pfeife ein etwas unförmiges Ungetüm heraus, das schnell wieder in die Pfanne wanderte.

Farbloses Glas von „Moser“ strahlt wie Bergkristall, und farbige Exemplare scheinen dem Regenbogen selbst das Violett, Blau, Grün, Gelb oder Rot entnommen zu haben. Meister Ondrej zu fragen, woher das Glas der Hütte seine Reinheit oder seine leuchtenden Farben hat, war vergebliche Mühe. Mit zwei, drei kurzen Bemerkungen und einem Lächeln musste der neugierige Journalist zufrieden sein. Pottasche, Soda, Sand, Kalkstein - die Grundstoffe kenne man ja. Verschiedene Buntmetalloxyde hineingemischt, ergäben die unterschiedlichen Farben. Es hat schon fast verschwörerisch geklungen, als er gesagt hat, dass das berühmte Mosersche Violett durch Beimischung von Molybdän-Oxyd erreicht werde. Aber wie kommt es zu dem Blitzen des Kristalls, obwohl doch kein Gramm Blei in den Ansatz der Masse gelangt? Ja, das werde eben durch die ganz bestimmte Natrium-Kalium-Zusammensetzung erreicht. Und dann kam das gewisse Lächeln.

So oder so ähnlich hätten sicher auch die anderen 25 Meister vor den Pfannen an den Öfen geantwortet. 

In einem Punkt wären viele der damals 400 im Betrieb Beschäftigten sicher nicht ganz mit dem erfahrenen Glasbläser einig gewesen. Nein, nicht allein das flüssig-heiße Glas ist lebendig, lässt sich formen. Wenn die Stücke, die von der Bühne vor dem Schmelzofen kommen, auf langsamer Fahrt den Tunnelbandofen durchlaufen haben, wo sie so weit abkühlen, dass man sie am Ende anfassen kann, gelangen sie in die Schleiferei. Hier sitzen seit jeher die Meister der exakten Kanten und spiegelglatten Flächen mit ihren verschieden großen Karborundum-Scheiben. Unter ihren Händen gewinnen noch immer die Trinkglas-Garnituren, die sogenannte „Mosersche Phantasie“, die Römer, Schalen und Karaffen die Eleganz, die ihnen den ersten Platz auf Tafeln von Staats- und Regierungschefs einräumt. Ein einziger Lichtstrahl, durch den hervorragenden Schliff zigmal gebrochen, entfacht ein solches lebendiges Feuer im Glas, als sei dies gerade aus dem Ofen geholt.

Den „letzten Schliff“ erhielten und erhalten jedoch damals wie heute viele Erzeugnisse in der Gravier-Werkstatt. Die zu betreten war mir nur durch zielgerichtete Schnelligkeit geglückt. Dort habe ich den Spezialisten Konstantin Hable getroffen. Er und seine Kollegen haben Jagdmotive, Porträts, ja ganze Szenefolgen auf die blanken Flächen gezaubert. Das Bild einer Blumenverkäuferin nach einem alten französischen Original hatte Hable erst vor kurzem auf einer Vase vollendet. Gut vier Wochen Arbeit habe das gekostet. Über solch komplizierten Aufgaben könne man nicht den ganzen Tag bleiben, weil sie höchste Konzentration erforderten. Alles, bis auf die Pupille im Auge, bis auf jede Falte im Rock, müsse stimmen. Und der Graveur dürfe die wertvolle Arbeit aller anderen vor ihm nicht durch einen Fehler zunichtemachen. Zum Handwerkszeug des Glasgraveurs gehören 100 bis 120 feine, unterschiedlich starke Spindeln wieder mit unterschiedlich großen Karborundum-Scheiben. Die kleinsten haben einen Durchmesser von nur zwei Millimetern. Ein Gestell mit Elektromotor für die Spindeln und verdünnte Schmirgelpaste vervollständigen das Ganze. 

„Jeder Glasgraveur muss gut zeichnen können“, hat Konstantin Hable damals betont. Er habe in Professor Josef Hegenbarth vor fast 30 Jahren einen hervorragenden Lehrer gehabt. Das Glasgravieren habe er aber von seinem Onkel Konstantin gelernt, der zu den Besten des Fachs in Karlovy Vary gehört hat. Und Hable hat seine Erfahrungen an seinen Sohn Radomir weitergegeben, der zur Zeit meines Besuchs gleich nebenan ebenfalls als Graveur arbeitete. 

Mit einer Gravier-Werkstatt hat übrigens auch Ludwig Moser (1833-1916) in der Bäderstadt seine Laufbahn begonnen. Dabei ließ er es jedoch nicht bewenden, sondern entwickelte daraus eine Schleif- und Kantenschliff-Manufaktur. Schließlich gründete er 1892/93 seine eigene Glashütte, die für die weitere Entwicklung der böhmischen Glas­erzeugung grundsätzliche Bedeutung erlangte. Das 1938 von den Nazis „arisierte“ Unternehmen wurde nach dem 2. Weltkrieg verstaatlicht. Seine Produkte trugen weiterhin den Ruf tschechischer Glaskunst aus Karlovy Vary in rund 40 Länder der Welt. Japan, China, Russland, USA, Großbritannien als Großabnehmer seien hier nur stellvertretend angeführt. Nach der politischen Wende wieder privatisiert, ist die Moser-Glashütte jedoch nach wie vor in tschechischem Besitz. Interessenten finden sie am Ortsausgang von Karlovy Vary, an der Straße nach Cheb.

aus VS Aktuell 4/2018, erschienen im  VS Aktuell   VS Aktuell 4/2018