Wie steht es eigentlich um die Marienkirche von Most? Dieser Gedanke bewegte mich und meine Frau im Sommer 1989 zu einem Pkw-Ausflug in die nordböhmische Stadt am Südhang des Erzgebirges. Dort konnten wir feststellen, die Kirche steht am Rande von Most, als hätte sie nie einen anderen Platz gehabt. Nur der Turm fehlte noch. Dabei wussten wir natürlich, dass sowohl der 900 Jahre alte Ort als auch das Gotteshaus einem Vorkommen hochwertiger Braunkohle von 90 bis 100 Millionen Tonnen in geringer Tiefe weichen mussten. Die Tschechoslowakei, nicht reich an Bodenschätzen, brauchte die Kohle vor allem für die Chemieindustrie und auch zur Energiegewinnung. So wurde das Städtchen mit seinen engen und verwinkelten Straßen und Gassen abgerissen. Die Einwohner konnten, nicht weit davon, in ein modernes „Novy Most“ ziehen. Abriß der Kirche ging jedoch auf keinen Fall. Was aber hat die Verantwortlichen im Ministerium für Kultur und anderen staatlichen Stellen bewogen, die Dekan-Kirche von ihrem ursprünglichen Standort wegzubewegen? War es ihr Alter, ihre Schönheit, ihr kunsthistorischer Wert? Vielleicht alles zusammen.
Der von Jakob Heilmann aus Schweinfurt projektierte Bau wurde im Jahre 1515 begonnen und nach rund 75 Jahren beendet. Vom Typ her ist das Haus eine französische Kathedrale mit drei Schiffen. Durch ihre spätgotischen Kreuzrippengewölbe übertrifft die Dekan-Kirche sogar zeitgenössische Bauten in Frankreich, der Wiege der gotischen Baukunst. Und sie repräsentiert den Stil ihrer Zeit für Böhmen, das Donaugebiet und Sachsen. Das gibt ihr eine Sonderstellung. So weit zur gesellschaftlichen Verantwortung, den 60 Meter langen, rund 30 Meter breiten und 31,5 Meter hohen Bau zu erhalten.
Selbstverständlich reizte mich das außergewöhnliche Erlebnis, die Kirche rollen zu sehen. Das war wenige Wochen nach Beginn meiner Korrespondententätigkeit in der Tschechoslowakei. Die Verschiebung hatte am 30. September 1975 begonnen. Am 6. Oktober, einem kühlen aber sonnigen Tag, machte ich mich mit einigen Kollegen auf den Weg von Prag nach Most. Als wir mit dem Auto auf wenige hundert Meter an den Ort des Geschehens herangekommen waren, nahm uns der Anblick des gewaltigen Objektes gefangen. Die Menschen vor und neben dem Kirchenbau wirkten wie Ameisen vor ihrem Hügel.
An Ort und Stelle informierte Diplomingenieur Otakar Novak, damals 42 Jahre, Direktor des Prager Betriebes für Gebäudeversetzungen „TRANSFERA“, über das gesamte Vorhaben. Von den alten Fundamenten der 10.000 Tonnen schweren Kirche ging er mit uns Wissbegierigen dem sakralen Bauwerk nach, das inzwischen bereits 300 Meter vorangekommen war. Als Erstes seien alle Kunstschätze, Altäre, Gemälde, Skulpturen und andere ausgeräumt und in ein sicheres Depot gebracht worden. Dann war der Bau von den Grundmauern getrennt und zu zwei Dritteln mit einer gewaltigen Stahlkonstruktion umfasst worden. Das Gewicht dieses Gerüsts betrug zusätzlich 2.000 Tonnen. Und die nun insgesamt 12.000 Tonnen wurden auf 53 vierachsige Spezialwagen gesetzt, die auf vier Gleisen liefen. Mit dem Kirchturm war das nicht zu machen. Darum wurde er abgetragen. Die Wagen mit ihren insgesamt 424 Stahlrädern von je 60 Zentimetern Durchmesser mussten die Dekankirche in leicht gebogener Bahn 841,1 Meter weiter zu dem vorgesehenen Platz mit den neuen Fundamenten tragen. Diese Spezialwagen, mit ihrer Hydraulik, mit Bremssystemen und Sensoren ausgestattet, waren an der Technischen Hochschule Prag unter Leitung von Professor František Dražan konstruiert worden. Gebaut haben sie die Arbeiter und Ingenieure der Škodawerke in Plzen. Ihr „Marschtempo“ betrug 1,2 bis 3,2 Zentimeter in der Minute.
Das alles, jede Bewegung, jeder geringste Stop, wurde von einer elektronischen Steuerzentrale im oberen Teil des die Kirche umgebenden Stahlgerüsts registriert, wie Diplomingenieur Novak erklärte. Und von hier gingen auch die Impulse zur Weiterfahrt aus. Die befahrenen Gleise wurden hinter der Kirche abgebaut und vor ihr wieder passgenau angesetzt. Bei der „enormen Geschwindigkeit“ der Verschiebung konnten wir Laien natürlich keine Bewegung des Ganzen erkennen. Weil ich damit nicht zufrieden war, erlaubte ich mir, etwas abseits von den Kollegen, ganz nah an so einen Spezialwagen heranzutreten. Da entdeckte ich eine am Wagen befestigte ziemlich schmale, gebogene Stange. An deren Ende befand sich ein kleines Gummirad von vielleicht vier bis sechs Zentimetern Durchmesser. Es lief auf der Schiene vor dem großen Stahlrad. Jetzt war ich glücklich wie ein kleiner Junge, der eben einen nagelneuen Fußball bekommen hat. Mit eigenen Augen hatte ich gesehen, wie das über 400 Jahre alte spätgotische Meisterwerk auf den modernen Meisterwerken ruhig und sicher seine programmierte Bahn gefahren ist.
Die ganze Verschiebung wurde noch im Herbst 1975 abgeschlossen. Alle Teile, die zu Beginn der Großaktion entfernt worden waren, so eine Treppe und andere, auch die Kunstwerke, sind danach vom Betrieb Prumstav Pardubice und anderen wieder aufgebaut und installiert worden. So haben meine Frau und ich bei unserem Besuch auch das Innere der Dekan-Kirche in voller Schönheit betrachten können. Natürlich hat das Bauwerk inzwischen auch wieder einen Turm.