Demenz: Ein Auslöser von Gewalt in der Pflege

Schläge, Misshandlungen, Vernachlässigung oder auch das Ruhigstellen mit Sedativa – Gewalt in der Pflege kann vielfältig sein. Oft bedienen Medien das Bild, dass Pflegebedürftige Gewalt durch überforderte Pflegende erfahren und dieser wehrlos ausgesetzt sind. Vergessen wird dabei jedoch, dass durchaus auch Mitarbeiter*innen von Pflegeeinrichtungen Opfer gewaltsamer Übergriffe durch die von ihnen betreuten und gepflegten Menschen werden.

Die Aggressivität von Bewohner*innen nimmt zu. So lautete vor zwei Jahren ein Ergebnis der Auswertung von Arbeitsunfällen durch den Arbeitsausschuss der Volkssolidarität Chemnitz und ihrer Tochterunternehmen. Besonders von schwer an Demenz erkrankten Menschen mussten Mitarbeiter*innen bereits Schläge und sexuelle Belästigungen erleiden. Dabei kann und sollte den Bewohner*innen kein Vorwurf gemacht werden, denn diese können aufgrund ihrer fortschreitenden Erkrankung ihr Verhalten oft nicht mehr kontrollieren. Dennoch müssen die Mitarbeiter*innen vor Übergriffen geschützt werden.
„Sicherlich können Aggressionen durch die Gabe von Sedativa verhindert oder gemindert werden, doch das entspricht keinesfalls unserem Anspruch im Umgang mit den uns anvertrauten Menschen“, erklärt Melanie Tuchscherer, Bereichsleiterin Stationäre Pflege und Geschäftsführerin der pflegeheimbetreibenden Tochterunternehmen. „Wir haben in der Folge im Qualitätsmanagement unseren Kolleginnen und Kollegen einige Handreichungen mitgegeben, durch deren Anwendung sie im Umgang mit den pflegebedürftigen Menschen mögliche Aggressionen vermeiden und sich dadurch schützen können. Entwickelt und abgestimmt haben wir diese mit unserem Betriebsarzt, unserem Verantwortlichen für Arbeitsschutz und unserer Pflegeberaterin unter Einbeziehung von Kolleginnen und Kollegen vor Ort und des Rats von Neurologen.“

Validierte Kommunikation: An Demenz Erkrankte richtig ansprechen

„Validierte Kommunikation“ nennt sich eine der Handreichungen, in der kurz die vier Stadien der Demenz dargestellt werden, wie sie die Gerontologin Naomi Feil beschrieben hat. Die örtliche Desorientierung ist das erste Stadium, auf das als zweites die Zeitverwirrtheit folgt. Hierin lassen zum einen die Sinne nach, zum anderen verlieren für den Erkrankten soziale Konventionen immer mehr an Bedeutung. Die Abschottung von der Umwelt und der Verlust der Fähigkeit, Emotionen wie Wut, Scham oder sexuelle Bedürfnisse zu kontrollieren, kennzeichnen als drittes das Stadium der wiederholenden Bewegungen. Und zuletzt – im Stadium des Vegetierens – erkennen die zumeist antriebslosen Bewohner*innen nun Pflegekräfte und selbst enge Angehörige nicht mehr. Die Grenzen zwischen den Stadien sind fließend und können je nach Tageskonstitution wechseln. Vor diesem Hintergrund hat Naomi Feil für jedes Stadium verschiedene Validationstechniken zur verbalen und nonverbalen Kommunikation entwickelt.

„Die Pflegekraft nimmt dabei eine validierende Grundhaltung an, nimmt das Verhalten des zu pflegenden Menschen auf und begibt sich in seine Welt“, erklärt Melanie Tuchscherer und führt einige Beispiele an: „So ist es etwa wichtig, nach Tatsachen zu fragen und nicht nach den Gründen, da ein ‘Warum?‘ unter Rechtfertigungsdruck setzen könnte. In welchem Stadium eine Bewohnerin oder ein Bewohner eine Berührung ablehnt und in welchem diese vielleicht benötigt wird, ist ebenso von Bedeutung. Ein einfaches Beispiel: Wenn jemand weglaufen möchte, dann können wir Menschen nicht einfach festhalten und dadurch Aggressionen in ihnen hervorrufen. Wir sollten besser ein Stückchen mitgehen und die Person nach einer kleinen Weile durch einen für sie nachvollziehbaren Grund - weil sie vielleicht ihre Jacke vergessen hat - dazu bewegen, wieder in ihr Zimmer zu gehen. Oft ist dann der Bedarf zum Weglaufen gar nicht mehr da.“

Pflegebedürftige kennen und so Aggressionsauslöser bemerken

Wichtige Basis für validierende Kommunikation ist die Kenntnis jener biografischen Daten des pflegebedürftigen Menschen, die dafür relevant sind. Das Verhältnis zu den Eltern, die Anzahl der eigenen Kinder, der Beruf und die Hobbys können von Belang sein. Lücken werden bereits bei der Aufnahme oder in späteren Gesprächen in Zusammenarbeit mit den Angehörigen ergänzt. Ebenso ist die vorbereitende Zusammenarbeit mit den behandelnden Neurolog*innen wichtig, die das individuelle Krankheitsbild genau kennen. Es geht darum, den Aggressionsauslöser zu isolieren, indem man die Hintergründe und Ursachen kennt.
Ebenfalls im Qualitätsmanagementhandbuch enthalten ist die „Deprivationsprophylaxe“. Sie bereitet die Mitarbeiter*innen auf den Umgang mit pflegebedürftigen Menschen vor, die den Verlust vertrauter Fähigkeiten bemerken und sich eventuell dadurch benachteiligt fühlen.

Diese und weitere Dokumente wie jene zum „Schutz vor sexuellen Übergriffen“ begleiten neues Personal bei der Einarbeitung und sind Inhalt interner oder externer Schulungen und Deeskalationstrainings.
„Wir sensibilisieren die Leitungskräfte unserer Einrichtungen regelmäßig für das Thema ‚Aggressives Verhalten‘ und empfehlen ihnen, einmal jährlich eine Teamschulung darüber durchzuführen. So soll auch herausgefunden werden, in welchen Situationen einzelne Kolleg*innen aufgrund ihres Auftretens und ihrer Erfahrungen besser als andere für die Vermeidung von Aggressionen und für Deeskalation geeignet sind und wo noch weiterer Schulungsbedarf besteht.“

Sollte es dennoch zu Übergriffen oder grenzwertigem Verhalten ­kommen, muss darüber mit Mitarbeiter*innen, dem Team oder der Einrichtungsleitung unbedingt gesprochen werden. Wohlwissend, dass dies innerhalb der Einrichtung nicht immer gegeben ist und sich beispielsweise eine Frau bei sexueller Belästigung aus Schamgefühl nicht an einen Mann wenden möchte, wurde in der Personalabteilung eine zusätzliche Anlaufstelle eingerichtet. Neue Mitarbeiter*innen werden darüber bereits bei der Einstellung informiert.

 

 

Der Artikel erschien zuerst in der März-Ausgabe 2023 des vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Sachsen herausgegebenen Magazins ­„anspiel.“ mit dem Schwerpunkt „Gewalt in der Sozialen Arbeit“. Er entstand in enger Zusammenarbeit mit Kollegen des Bereichs Teil- und vollstationäre Pflege.

aus VS Aktuell 3/2023, erschienen im  VS Aktuell 1/2024   VS Aktuell 3/203   Aus LIGA und PARITÄT  # Demenz