Erinnerungen

Viele Leser dieses Magazins haben ein Lebensalter von 70 bis 80 und älter – wie etwa knappe 33 % unserer Stadtbevölkerung. Selbst erfahrene oder auch aus Erzählungen nächster Angehöriger bzw. der übernächsten Generation überlieferte Erlebnisse von der Zeit der Verabschiedung Deutschlands von der Weimarer Republik, mit der NS-Diktatur oder mit dem späteren Krieg sind Erinnerungen an eine bestimmte Zeit im Leben. 

Finden Sie das wieder, was Ihnen als Erinnerung lieb und teuer ist – oder manchmal auch nicht –, wenn Sie die Zeitung aufschlagen, den Fernseher oder das Radio anstellen?

Ich jedenfalls habe für mich schon eine ganze Weile herausgefunden, dass Schilderungen und Erinnerungen an das Leben in jener Zeit unter einer noch nie dagewesenen Vielfalt erst entdeckt werden müssen. Sie sind versteckt unter neuen Darstellungen, Deutungen und oft auch unter Infragestellungen – eben mit einem Zeitabstand von über 90 Jahren. Das ist eine schwierige Angelegenheit.

Aber eigentlich sind wir doch „Zeitexperten“! Die Forscher, Akademiker, Journalisten sollten vor uns keine Furcht haben und wir brauchen uns vor ihnen nicht zu schämen. Doch leider ergibt sich nicht automatisch aus eigenem Erleben oder überliefertem Wissen unserer „Altvorderen“ eine Weitergabe, wofür es viele Gründe geben kann.

Opa Heinz

Mein Großvater mütterlicherseits, der mit einer nichtjüdischen Frau in einer sogenannten privilegierten „Mischehe“ lebte, berichtete mir eben nicht zu seinen Lebzeiten von seiner Flucht 1944 als Wehrmachtssoldat von der französischen Atlantikküste über knapp 400 km Entfernung nach Deutschland.

Ich war oft mit ihm zusammen, er kam zu Weihnachten zu Besuch und schmückte den Weihnachtsbaum, gewissenhaft und exakt, denn er war Dekorateur. Am einfachsten war es für ihn und am schönsten für uns, immer einen Pappkarton mit Sahnebonbons mitzubringen, die es in seinem „Konsument“ Kaufhaus in A. gab. Im Winter zog er mit mir mit einer „Pouva Start“-Kamera in den Wald und brachte mir das Fotografieren bei.

Aber auch von seinen beiden Töchtern, deren eine meine Mutter ist, erhielt ich, erst nach dessen Tod 1977, begrenzt Kenntnis von jener biografischen Begebenheit als Soldat im Zweiten Weltkrieg.

Erst zu Beginn der 2000er-Jahre hielt ich einen in der Familie hinterlassenen Lebensbericht seines jüdischen Vaters in den Händen, aus dem sich dann für mich eine zusammenhängende Erzählung ergab. Fragen konnte ich somit an ihn nicht stellen, auch wenn ich fast noch ein Kind war. Es geschah nun einmal so.

In manch anderen Familien sprach man dafür nur vorsichtig von Onkel Heinz, der nicht aus dem Krieg zurückkehrte, dessen vergilbtes Foto nur manchmal zum Vorschein kam oder von der Mutter, die auch beim BDM gewesen sein soll. Dies habe ich dann viel später versucht, durch Recherchen und intensives Nachfragen zu hinterfragen. Wer kennt sich damit (noch) aus, wenn er von Berufs wegen nicht Historiker oder Akademiker ist? Reichsbürgergesetz – Rassengesetze – Mischlingsehe – Ahnenpass – Einberufung und Kriegsteilnahme jüdischer Bürger – Lebensmittelmarken – Strom- und Ausgangssperre – Besatzungsterritorien in Deutschland – Internierung in Deutschland nach der Kapitulation Deutschlands – Entnazifizierung?

Neben Wissensdrang und Neugier benötigte ich auch Interesse und Neugier am Leben meiner nächsten Lieben: Wer hat ihnen in der Not geholfen? Wer hat sich lieber davor gescheut und warum? Gehörte auch Glück zum Überleben? Wer hatte an allem Schuld? 

Die für mich übertriebene Fürsorge meiner Mutter, Lebensmittel nie verderben zu lassen und sie bis zum letzten Tag aufzuheben und zu verbrauchen, war nur mit ihren Erzählungen von den Bombennächten zu verstehen. Ihre Hingabe zu dem Gedicht von den „Kinderschuhen von Lublin“ war ihre Erinnerung, ihre Identität mit jener Zeit, in der sie in ihrer Heimatstadt in A. als „¼-Jüdin“Repressalien hat erdulden müssen. 

Haben Sie auf dem Boden, im Schrank, im Keller, in einem Koffer Briefe, Fotos, Erinnerungsstücke an jene Zeit – dann verbergen Sie diese nicht. Holen Sie sie hervor, zeigen Sie sich selbst wieder einmal in Ihrer Gemeinschaft, aber bitte auch unbedingt Ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln. Dafür ist es nicht zu spät.

Georg Baumgarten

Machen Sie mit mir eine kleine Zeitreise zu einer noch weiter zurückliegende Generation, aus deren Zeit höchstens noch historische Postkarten und alte Zeitungen im Stadtarchiv oder Museum aufbewahrt werden – in die 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts:

Am 24. April 1881 ließen sich im Stadtteil Altendorf an die 1.000 Interessierte und Neugierige auf eine Begegnung mit dem Grünaer Luftschiffpionier Georg Baumgarten (1837 – 1884) ein. Eingeladen von einem „Komitee des lenkbaren Luftschiffes“ überzeugten sich die zahlreichen Gäste, die Mehrheit von ihnen zum Leidwesen der Veranstalter ohne Erwerb einer Eintrittskarte, auf dem Platz des früheren Schützenhauses von der Lenkbarkeit seines konstruierten Flugapparates.

Anwesende Sachverständige und notwendige Zeugen bezeugten dem Oberförster Georg Baumgarten und dem Leipziger Verleger Friedrich Herrmann Wölfert mehrere erfolgreiche Flugversuche sowie Antrieb und Steuerbarkeit „auch bei ziemlich starkem Wind“. Dieses Ereignis hatte der Stadtteil Altendorf auf alle Fälle dem damaligen Flugplatz im benachbarten Stadtteil Kappel voraus, denn erst 1919 überflog ein Luftschiff die Stadt Chemnitz und landete dann wiederum auf einem Sportplatz in Chemnitz- Altendorf.

Doch Georg Baumgarten hatte andere Sorgen. Seine zeitlebens fehlende Anerkennung für seine einmaligen Experimente und Flugversuche, die Ignoranz seines Gesamtwerkes und eine Erkrankung beendeten mit 47 Jahren sein Leben. 1882 war er noch nach Chemnitz-Siegmar gezogen. Gegen Ende seines Schaffens hatte er an einem neuen Flugprinzip „herumgetüftelt“, das Zeppelin etwa 20 Jahre später mit dem Aufstieg seines Flugschiffes in die Tat umsetzte.

Sollten Sie in diesem Sommer, im Arm mit Ihren Enkeln, vor der Küchwaldbühne gesessen und sich während der wunderbaren Aufführung von Peter Pans Abenteuer mit seinen neuen Freunden Wendy und Michael durch die Luft nach Lummerland entführt lassen haben, dann sauste der „fliegende Oberförster aus Grüna“ vielleicht unter den Wolken von Chemnitz mit. Auch nächstes Jahr wird es in einem hoffentlich warmen und trockenen Sommer wieder Gelegenheit dazu geben. Dazu wünsche ich Ihnen schon jetzt, so wenige Wochen vor Weihnachten, viel Spaß mit Ihren Enkeln.

aus VS Aktuell 4/2022, erschienen im  VS Aktuell 4/2022 Aus der Stadtgeschichte