Kurz bevor der Bus kommt, kontrolliert Rainer Müller von der Leitung der Wohngruppe 030 mit seiner Teilnehmerliste die Anwesenheit. Dabei lässt er sich von Ingeburg Eger helfen. Die ehemalige Kindergärtnerin, die nun schon seit mehr als 20 Jahren Rente bekommt, kennt alle Mitglieder bestens. Dann, unterwegs im modernen Fahrzeug, tauscht sie mit der einstigen Lehrerin Jutta Müller Ansichten und Eindrücke aus. Es geht von der Geibelstraße ins Zentrum, darauf kreuz und quer durch die Stadt. Solche vom Reisebüro der Volkssolidarität angebotenen Rundfahrten haben für ältere Chemnitzer einen besonderen Reiz. Geschichte und Geschichten, deren Teil man selbst ist, ziehen wie im Zeitraffer vorbei: Erinnerungen verbunden mit dem Chemnitzer Hof, dem Karl-Marx-Monument, dem Küchwald, der Schloß-Kirche oder der Esche-Villa. „Allen Teilnehmern hat die nachmittägliche Tour an diesem ersten Oktober-Dienstag sehr gefallen“, sagt Ingeburg Eger. „Schließlich wollten wir wissen, was sich in der Stadt verändert hat, was es Neues gibt, aber auch, was an Erhaltenswertem gut bewahrt wurde.“ Wertvolles erhalten, das war für Ingeburg ein entscheidender Grund, mit ein paar anderen Frauen die Wohngruppe neu zu aktivieren, als zur politischen Wende vieles drunter und drüber ging. Von Tür zu Tür sind sie in ihrem Wohngebiet an der Geibelstraße gegangen. Hartnäckig haben sie in Gesprächen Alleinstehende und Ehepaare, welche die ,Soli‘ schon aufgegeben hatten, überzeugt, wieder mitzumachen. Auch neue Mitglieder konnten sie gewinnen. Zu Vorträgen über Chile, über gesundheitliche und soziale Themen haben sie in den Hausklub der Nummer 215 eingeladen. Anfangs kamen 30, bald 50. Heute gehören 119 Frauen und Männer zur Wohngruppe und nutzen jeweils verschiedene Begegnungsstätten des Stadtverbandes. Das Organisieren liegt der couragierten Chemnitzerin, die schon mit 26 Jahren der Volkssolidarität beigetreten ist. Als sie während der ersten Hälfte der 60er mit ihrer Familie in Frankenberg wohnte, wo sie den Betriebskindergarten der Steppdeckenfabrik leitete, half sie oft, Kinder-, Sport- und Wohngebietsfeste zu gestalten. Das Org-Talent bescheinigt der Inge, wie sie allgemein genannt wird, auch Rosemarie Schnabel, die Leiterin der Wohngruppe 030. „Besonders gern veranstaltet sie Ausstellungen und thematische Modenschauen zu bunten Nachmittagen. Da werden aus ihrem großen Fundus im Keller Badesachen, Nachtbekleidung oder Hüte von anno dunnemals hergezaubert und vorgestellt. „Das bereitet immer viel Spaß“, weiß sie schmunzelnd zu berichten. Auch die vergangenen April unter Ingeburgs Leitung gestaltete Hobby-Schau in der Begegnungsstätte Clausstraße habe großen Anklang gefunden. Damit sei nicht nur das Selbstwertgefühl mehrerer Mitglieder, die verschiedene Handarbeiten und auch Kunst präsentierten, gestärkt worden. Die Exposition habe außerdem einigen Leuten neue Anregungen gegeben, selbst etwas zu probieren. Gestalten, Anregen, Betreuen, kurz, für andere da sein - das macht das Wesen von Ingeburg Eger aus. Die Wurzeln hierfür liegen in ihrer großen Familie, wie sie sagt. „Wir waren zu Hause acht Kinder, sechs Mädchen und zwei Jungen. Da hatte einfach jeder mit zuzupacken, einer dem anderen zu helfen.“ Dieses ,Wir-Gefühl‘ hat sie Kindergärtnerin werden lassen, ein Beruf, dem sie über 40 Jahre hin-gebungsvoll treu geblieben ist. Die meiste Zeit in Chemnitz. Dieselbe gegenseitige Unterstützung in der Arbeit und bei gesellschaftlicher Tätigkeit galt in der Ehe mit ihrem Mann Roland, der bereits vor 20 Jahren verstorben ist. Ebenfalls in diesem Sinne ist der Sohn Roland (53) erzogen, der seit langem mit seinem Jungen Christopher beim Technischen Hilfswerk aktiv mitwirkt. Das ,Wir-Gefühl‘, das von Ingeburg ausgeht, spüren die Mitglieder der Wohngruppe, wenn sie zu runden Geburtstagen gratuliert, Kranke und Pflegebedürftige besucht und traditionell die über 80jährigen zur Kaffeetafel in die Gaststätte „Zur Miene“ einlädt. Schließlich ist sie in der Wohngruppenleitung für Soziales verantwortlich. Wie gut das zu ihr passt, weiß auch Gerhard Thiele. Der 91jährige Witwer, der gleich um die Ecke in der Liselotte- Hermann-Straße wohnt, stellt sich schon lange Tag für Tag bei Ingeburg pünktlich 11,30 Uhr zum Mittagessen ein. Später spielen sie bei ihm Karten und trinken Kaffee oder gehen spazieren.