„Beijm Rothen Thurme“

Zur Geschichte eines Chemnitzer Wahrzeichens

Wenn Touristen in Chemnitz Fotos „schießen“, dann ist es im seltensten Fall der Rote Turm im Stadtzentrum. Deshalb wollen wir uns heute einmal mit dem Veteranen der Stadtgeschichte etwas näher befassen.

Der Rote Turm wurde, wie die archäologischen Rettungsgrabungen in der Innenstadt um 1994/95 bezeugen, in der Mitte des 12. Jahrhunderts als Teil einer burgähnlichen Anlage noch vor der Errichtung der Stadtmauer gebaut. Er war 40 Meter hoch, die Stärke seiner Mauern betrug unten 2,40 Meter und oben 1,20 Meter. Er besteht aus fest gefügten Steinquadern und war im oberen Geschoss von roten Ziegeln bekrönt. Der Turm diente zuerst als Sitz eines Reichsministerialin mit seinen Dienstmannen, die eine Furt am Zusammentreffen zweier Böhmerstraßen zu sichern hatten.

Erst beim Bau der Stadtmauer im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts – aus fest gefügtem Mauerwerk mit einem Wehrgang an der Innenseite – erfolgte seine Anbindung an diese. Er galt unter den 25 Wehrtürmen zum Schutz der Stadt als einer der mächtigsten. Deshalb bezeichnete ihn auch Paul Schneevogel (Paulus Niavis), der langjährige Rektor der Chemnitzer Lateinschule (Lyzeum), um 1486 als „turris robusta“. Die erste urkundliche Erwähnung erfolgte 1466 im Geschoßbuch der Stadt Chemnitz – einer Aufstellung der Grundbesitzer und Steuerpflichtigen – als das Umfeld des Bauwerkes als „beijm Rothen Thurme“ bezeichnet wurde. Schon 1628 ist er deutlich auf der ältesten Gesamtansicht des befestigten Chemnitz, einer Federzeichnung von Wilhelm Dilich, zu erkennen. Im Dreißigjährigen Krieg wurde der Rote Turm bei der Belagerung der Stadt im Jahre 1632 „am Tache sehr zerschoßen“. Seine Instandsetzung konnte aber erst ein Vierteljahrhundert später – wie Rechnung von 1662 und 1663 belegen, vorgenommen werden.

Im Mittelalter war der Rote Turm Sitz der Gerichtsbarkeit. Daher könnte auch sein Name rühren, da ja Rot bekanntlich als die Farbe der Rechtssprechung gilt. Nach dem Kauf der Gerichtsbarkeitsrechte durch die Stadt vom Landesherrn diente der Turm seit 1423 als Sitz des Stadtrichters. Aus dem Jahre 1563 ist bezeugt, dass der „Abdecker Hans Schultz“ vom Rat einige Groschen für das Ausräumen des Gefängnisses im „Rothendohrme“ erhielt. 1576 besaß der Turm 13 „brauchbare“ Zellen für 19 Gefangene. Ihren Zustand beschreibt der Chemnitzer Dichter Anton Ohorn in seinem Roman „Um Glauben und Glück“: „Eine dumpfige Luft wehte dem Eintretenden entgegen aus dem engen, halbdunklen Raume, der sein Licht nur von einem hochliegenden kleinen Fenster erhielt. Auch die ganze Einrichtung des Käfigs war mehr als dürftig. Kahle graue Wände, an deren einer eine breite Holzbank mit einer alten Decke darüber, die als Bett diente, ein kleiner roher Tisch mit einer niedrigen, schmalen Sitzband davor. Das war alles“.

In dem Turm wurden jedoch nicht nur „Spektakelmacher“ inhaftiert. Zu den Gefangenen gehörten auch solche Menschen, die mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht einverstanden waren. So hatte man z. B. die „Haupträdelsführer“ der Bauernerhebung gegen die feudale Ordnung um 1790 in der Umgebung der Stadt hier inhaftiert. Ebenso erging es den Verantwortlichen des Arbeitsprotestes der Maschinenbauwerkstatt von Carl Gottfried Haubold gegen die Einführung einer neuen verschärften Fabrikordnung am 11. Januar 1834. Der „Brotkrawall“ gegen eine unmäßige außerordentliche Brotpreiserhöhung am 31. Juli 1847 füllte wieder die Zellen im Roten Turm. Und natürlich waren auch aufrechte Demokraten im Zuge der revolutionären Ereignisse von 1848/49 hier eingesperrt. Manchmal dienten die Zellen nur als Zwischenaufenthalt für die Gefangenen, bevor sie in die Staatsgefängnisse auf der Augustusburg und auf der Festung Königstein verbracht wurden.

Die rasante Entwicklung im Militärwesen führte dazu, dass die sächsische Regierung am 24. April 1805 entschied, die nunmehr nutzlosen Festungswerke niederzulegen. Als einziger Zeuge für die einstmalige Wehrhaftigkeit von Chemnitz blieb nur der Rote Turm erhalten. Doch das Bauwerk büßte seine dominante Position ein. Er war bald nicht mehr frei stehend. Er wurde von 40 gewerblichen Einrichtungen umschlossen. 1853 wurde an den Turm ein Zellenhaus, die Stadtfronfeste und spätere Bezirksgefangenenanstalt gebaut. Hier waren vielfach Sozialdemokraten „Stammkundschaft“. So saßen z. B. am 25. Juli 1871 alle Redakteure der Chemnitzer „Freien Presse“ ein. Im Ersten Weltkrieg diente das Zellenhaus auch als Arrestlokal für die Chemnitzer Garnison.

Die Bezirksgefangenenanstalt „Roter Turm“ wurde 1928 aufgelöst, das Zellenhaus 1928/29 abgebrochen und an seiner Statt der Filmpalast „Roter Turm“ errichtet, der am 26. September 1929 eröffnet wurde.

Das gesamte Areal um den Roten Turm wurde beim Luftangriff am 5. März 1945 in ein einziges Trümmerfeld verwandelt. Der Turm verlor seine charakteristische Dachhaube und brannte aus.

Unter Mühen wurde der Turm bis 1957 im Äußeren des 16. Jahrhunderts wiederhergestellt und am 12. September 1959 als museale Einrichtung der Stadtgeschichte der Öffentlichkeit übergeben. Am 15. Juni 1957 erfolgte bei einem Großeinsatz im Nationalen Aufbauwerk der erste Spatenstich für das allseits beliebte „Café am Roten Turm“, einem großfenstrigen Flachbau, der den Turm von drei Seiten umfasste. Es musste nach der Wende der Neugestaltung des Stadtzentrums weichen. Der Turm selbst aber ist aus Brandschutzgründen noch immer ungenutzt. Das am 27. April 2000 eröffnete Einkaufszentrum erhielt den Namen „Galeria Roter Turm“. 

Ein Kuriosum noch zum Schluss: Der Rote Turm stand für die Flaschenform des Geschirrspülmittels „Fit“ Modell.

 

Quellen: Weinhold, Emil: Drei alte hohe Herren unserer Stadt Chemnitz, in: Chemnitzer Kalender 11 (1920), S.60-62 · Der rothe Turm, in: Chemnitzer Tagesblatt und Anzeiger · Chemnitzer Tore von einst. Ehemals stolze Bastionen unserer festummauerten Stadt, in: Chemnitzer Tageszeitung, 185, 09/10.08.1941 · Göckeritz, Felix: Chemnitz, die feste. Chemnitzer Tore und Türme in vergangener Zeit, in: Chemntizer Tageblatt und Anzeiger, 176, 28.06.1942 · Der neue Filmpalast „Roter Turm“, in: Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, 265, 25.09.1929 · Frühlingsrauschen. Eröffnungsvorstellung im Filmpalast „Roter Turm“, in: Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, 267, 27.09.1929 · Der Veteran unserer Innenstadt, in Volksstimme, 281, 03.12.1948

aus VS Aktuell 2/2012, erschienen im  VS Aktuell   VS Aktuell 2/2012 Aus der Stadtgeschichte