VS Aktuell: 1990 wurde der Volkssolidarität Stadtverband Chemnitz e. V. als Verein gegründet. Als langjähriger Geschäftsführer und seit 2010 als Vorsitzender haben Sie sicherlich mit am besten einen Einblick in die Entwicklung des Wohlfahrtsverbandes. Wie gestaltete sich der Anfang nach der Wende?
Andreas Lasseck: Die Nachwendezeit war nicht nur für viele Menschen, sondern auch für die Volkssolidarität überaus turbulent. Für die bisher zentral geführte Massenorganisation Volkssolidarität wurden kaum Überlebenschancen gesehen. Bis zur Wende waren ca. 35.000 Bürger der Stadt Chemnitz Mitglieder der Volkssolidarität, die in über 600 Wohngruppen organisiert waren. Ein Teil der Wohngruppenleitungen legten in der Wendezeit ihre Arbeit nieder und Tausende von älteren und teilweise hilfebedürftigen Mitgliedern hatten keine Ansprechpartner mehr. Es war ihnen nicht zu verdenken, dass sie daraufhin der Volkssolidarität den Rücken kehrten. Erschwerend kam hinzu, dass die hauptamtlichen Leitungen des Stadtbezirksausschusses Süd und des Stadtausschusses ihr Arbeitsverhältnis kündigten.
Auf Initiative der verbliebenen Sekretäre aus den Stadtbezirksausschüssen Mitte-Nord (Renate Linke) und West (Andres Lasseck) wurde im Juli 1990 eine übergreifende Beratung der verbliebenen über 45 ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder aus den Stadtbezirksausschüssen West, Mitte-Nord, Süd einberufen. Im Ergebnis der Beratung wurden drei Beschlüsse gefasst:
Die vorhandenen Strukturen sind zu stabilisieren und am über viele Jahrzehnte gelebten „Miteinander – Füreinander“, am aktiven Mitgliederleben festzuhalten.
Im Monat November 1990 ist eine Stadtdelegiertenversammlung einzuberufen, auf der die Volkssolidarität in Chemnitz als Verein gegründet und ein ehrenamtlicher Vorstand zu wählen ist.
Bis zur Wahl des neuen Vorstandes wurde Regina Ziegenhals als kommissarische Vorsitzende und Andreas Lasseck zum Geschäftsführer berufen.
Eine unverzichtbare Unterstützung erhielten wir damals von der Leitung des Bezirksausschusses Karl-Marx-Stadt (Ute Hager und Marga Hartmann).
Am 23. November 1990 fand die Gründungsversammlung unseres Vereins statt. Interessant war, dass sich erstmals Vertreter der örtlichen Presse für unsere Beratung interessierten und bis zur Wahl des Vorstandes anwesend waren. Obwohl einige wenige Gäste gehofft hatten, dass die Volkssolidarität in Chemnitz zu Grabe getragen wird, wurden sie eines anderen belehrt. Die überwiegende Mehrheit der Delegierten stimmte für den Fortbestand der 1945 gegründeten sozialen Struktur.
Der Volkssolidarität Stadtverband Chemnitz e. V. wurde gegründet und eine Satzung beschlossen. Regina Ziegenhals wurde zur Vorsitzenden gewählt und hat diese Funktion bis 2010 inne gehabt. Für ihr Jahrzehnte langes ehrenamtliches Wirken wurde sie 2010 mit der Eintragung in das „Goldene Buch“ der Stadt Chemnitz geehrt. Hervorzuheben ist, dass seitdem im ehrenamtlichen Vorstand Menschen mitarbeiten, die das Voranschreiten des Vereins unter Einbringung ihres Wissens und ihres Know-how erfolgreich führen.
Im Januar 1991 erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister und die die vorläufige Anerkennung als gemeinnütziger Verein. Bis zur Schaffung der Außenstelle des PARITÄTISCHEN Sachsen in Chemnitz fungierten der ASB und unser Verein als Ansprechpartner und vertraten den Spitzenverband bei Verhandlungen mit der Kommune. An der Gründung des Wohlfahrtsausschusses in der Kommune (heute Arbeitskreis Wohlfahrtspflege) sowie der Liga der Träger der Wohlfahrtsverbände war der Verein ebenfalls beteiligt. In diesen Strukturen, die für die sozialpolitische Arbeit und Interessenvertretung unverzichtbar sind, arbeitet der Verein noch immer aktiv mit.
VS Aktuell: Die Volkssolidarität ist heute nicht nur als Mitgliederverband, sondern auch als bedeutender Wohlfahrtsverband mit zahlreichen sozialen Dienstleistungen bekannt. Wie haben sich diese entwickelt?
Andreas Lasseck: Die kulturellen Angebote der Begegnungsstätten und Stadtteiltreffs und das „Essen auf Rädern“ gab es bei der Volkssolidarität schon vor der Wende. Nur hießen die Einrichtungen damals noch Klubs und das Essen wurde zu Fuß oder mit dem Kinderwagen zu den Senioren gebracht. In der DDR stand die Volkssolidarität vor allem für die Betreuung von älteren Bürgern, ein Schwerpunkt, dem wir bis heute treu geblieben sind.
Viele Dienstleistungen, die heute in den Händen von Wohlfahrtsverbänden liegen, wurden in der DDR vom Staat geleistet. Das Gesundheitswesen bspw. war staatlich, Pflege wurde von Gemeindeschwestern geleistet. Auch Kindergärten wurden staatlich betrieben. In der BRD ist das anders. Hier ist zuerst der Mensch für sich selber verantwortlich. Wenn er Hilfe braucht, bekommt er diese von einem Wohlfahrtsverband. Erst wenn diese nicht ausreichend ist, springt der Staat ein. Gemäß diesem Grundsatz wurden nach der Wende freie Träger gesucht, die bspw. die ehemals staatlich organisierte ambulante Pflege übernehmen.
Im Chemnitzer Stadtgebiet, welches mehr oder weniger unter den freien Trägern aufgeteilt wurde, eröffnete unser Stadtverband drei Sozialstationen. Dadurch konnten wir nunmehr Bürger der Stadt Chemnitz versorgen, die neben der Hauswirtschaftshilfe noch pflegerische Leistungen benötigten.
Wenig später suchte die Kommune neue Träger für Kindertagesstätten. Wir haben uns beworben und können stolz auf die Entwicklung der insgesamt vier Einrichtungen sein. Anders als bei noch vielen anderen Kindertagesstätten im Stadtgebiet wurden hier zeitgemäße alternative pädagogische Konzepte umgesetzt.
VS Aktuell: Gab es Projekte, die es heute nicht mehr gibt?
Andreas Lasseck: Sicherlich. Ein Beispiel ist hier das Kriseninterventionszentrum. Mit Fördergeldern haben wir eine Einrichtung aufgebaut, an die sich Menschen in psychischen Notsituationen wenden konnten. Hier fanden sie nicht nur Beratung durch Menschen vom Fach, sondern auch eine Unterkunft für ein paar Tage. Mit dem Wegfall der Fördergelder mussten wir dieses innovative Projekt nach 10 Jahren einstellen, da solch eine Einrichtung kaum Geld von einem betroffenen Menschen verlangen kann.
VS Aktuell: Innovationen gab es sicherlich noch an anderen Stellen …
Andreas Lasseck: Bspw. beim Betreuten Wohnen. Wir waren mit die Ersten unter den Verbänden der Volkssolidarität in Sachsen, die 1997 eine barrierefreie Wohnanlage mit Betreuung eröffneten. Getreu dem Motto „Alles aus einer Hand“ können hier die Mieter auch heute noch verschiedene Leistungen unseres Verbandes in Anspruch nehmen. Dazu gehören Pflege und Betreuung bei Bedarf, aber auch der gemeinsame Mittagstisch in den Begegnungsstätten und Stadtteiltreffs der Wohnanlagen. Über lange Jahre war das Betreute Wohnen eine Erfolgsgeschichte. Der schwierige Wohnungsmarkt in Chemnitz machte in letzter Zeit jedoch neue Ideen erforderlich. So gibt es seit wenigen Monaten ein neues Auftreten mit dem Konzept „MitMensch“ – mit klarem Bezug zur Volkssolidarität, aber durchaus peppiger, so dass auch Menschen, die nichts mit unserem Verband anfangen können, auf unser Angebot aufmerksam werden.
Das Betreute Wohnen war für uns zudem eine „Eintrittskarte“ in den Bereich Stationäre Pflege. Wir hatten zwar bereits 1994 das heutige Seniorenpflegeheim „An der Mozartstraße“ übernommen und dieses mit Fördermitteln 1999 um einen Neubau erweitert. Interessant wurden wir für Investoren jedoch erst durch die zahlreichen Wohnanlagen. 2000 gründeten wir die EURO Plus Senioren-Betreuung GmbH und betreiben gegenwärtig auch über weitere Tochtergesellschaften insgesamt 10 Pflegeheime in Sachen und seit einigen Jahren sogar in Bayern.
VS Aktuell: Warum in Sachsen und Bayern und nicht nur in Chemnitz?
Andreas Lasseck: In Chemnitz würden wir gerne ein weiteres Seniorenpflegeheim eröffnen. Wir haben sehr viele Mitglieder, die bereits in einem hohen Alter sind und die gerne die Pflege von ihrem Verein in Anspruch nehmen würden. Wir müssen sie aber immer wieder vertrösten. Die Lage in unserer Stadt ist nach wie vor schwierig. Das Bekenntnis der Kommune, die ambulante Pflege der stationären Pflege vorzuziehen, macht es schwer, Investoren zu finden. Diese sind aber dringend notwendig, um ein Heim betreiben zu können. Wir können ein Pflegeheim nicht einfach bauen und es dann betreiben. Dazu fehlt uns das Geld. Wir können es aber mieten und betreiben.
In anderen Kommunen ist das anders. Hier sind zumeist die regional ansässigen Verbände der Volkssolidarität auf uns zugekommen, die auch für ihre Mitglieder ein Pflegeheim brauchen, jedoch nicht unsere Erfahrungen auf diesem Gebiet haben. Gemeinsam haben wir die Ideen entwickelt und ein Investor wurde gefunden. Mittlerweile haben wir einen so guten Namen, dass uns angeboten wurde, Pflegeheime im Bayern zu betreiben. Drei Heime im benachbarten Freistaat sind es nun, die von uns und damit von der Volkssolidarität betrieben werden. Wir werden das Jubiläum nutzen, um dort die Volkssolidarität zu präsentieren. Vielleicht gelingt es uns ja, dort ein aktives Mitgliederleben zu etablieren.
VS Aktuell: Gibt es andere Projekte, die in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden der Volkssolidarität entstanden sind?
Andreas Lasseck: Ja, zum Beispiel unser Reisebüro. 1993 wurde es von 14 Verbänden gegründet. Mittlerweile sind wir alleiniger Gesellschafter, bieten unsere Reisen speziell für Senioren nach wie vor erfolgreich anderen Verbänden mit an. Mit einigen besteht hier eine sehr enge Zusammenarbeit.
Beim 1997 gegründeten Hausnotruf der Volkssolidarität sind auch andere Vereine beteiligt. Immerhin konnten wir im vergangenen Jahr über 5.000 Aufschaltungen zählen.
VS Aktuell: Die Volkssolidarität Chemnitz beschäftigt mit ihren Tochterunternehmen zusammen mehr als 900 Menschen. Was macht sie als Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter attraktiv?
Andreas Lasseck: Harmonie! Auch wenn es ab und an mal poltert, pflegen unsere Mitarbeiter ein harmonisches „Miteinander – Füreinander“, erstaunlicherweise getreu dem traditionellen Motto unseres Verbandes. Mag es sein, dass wir kein privater Betreiber mit Interessen am Profit, sondern ein gemeinnütziger Verein, ein Wohlfahrtsverband sind, dessen oberstes Ziel es ist, für andere Menschen da zu sein.
Zudem machen wir recht viel für unsere Mitarbeiter. Wir versuchen, auf individuelle Situationen einzugehen, diese u. a. im Dienstplan zu berücksichtigen. Wir organisieren Weiterbildungen, Informationsveranstaltungen, Ausflüge und kleine Feiern. Alles Dinge, die neben dem Lohn für viele Kollegen wichtig sind. Es ist gewünscht, dass sie sich mit ihren Ideen und Hinweisen in den Verein einbringen und wir haben ein gutes Qualitätsmanagementsystem.
VS Aktuell: Was hat Sie damals motiviert und was motiviert sie heute für Ihre Arbeit für den Verein?
Andreas Lasseck: Nach der Wende mussten wir aufgrund neuer Gesetze fast 500 Mitarbeiter entlassen. Ich hatte mir das Ziel gesetzt, diesen wieder eine neue Arbeitsstelle zu schaffen, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Auch wenn wir mittlerweile mehr als 900 Mitarbeiter haben, halte ich daran weiterhin fest. Es ist mir wichtig, Menschen, die einen Beruf gewählt haben, um anderen Menschen zu helfen, eine Perspektive zu geben.
VS Aktuell: Was zählen Sie zurückblickend zu den größten Erfolgen des Stadtverbandes der letzten 25 Jahre?
Andreas Lasseck: Ganz klar: Dass der Verein trotz öffentlicher Widerstände erhalten geblieben ist. Und dass nach wie vor das ehrenamtliche Engagement bei uns noch groß geschrieben wird. Die Nachbarschaftshilfe, das Eintreten zum Wohl anderer Menschen, ist etwas, was unseren Verband besonders und im gewissen Sinne einzigartig macht. Das gilt es zu bewahren.
VS Aktuell: Worauf sind Sie in Hinblick auf die Entwicklung besonders stolz?
Andreas Lasseck: Ich kann auf jeden Bereich unseres Vereins stolz sein, auf unsere Mitarbeiter und unsere Leistungsbereiche. Besonders ist jedoch auch das ehrenamtliche Engagement unserer Mitglieder. Viele Volkshelfer sind trotz ihres teilweise hohen Alters und der damit einhergehenden Gebrechen unterwegs, um anderen Menschen zu helfen. Dafür habe ich Hochachtung.
Ein weiterer Aspekt macht mich stolz: Die Volkssolidarität ist 1945 ins Leben gerufen worden, um den notleidenden Menschen in der Nachkriegszeit zu helfen. Heute benötigen wieder Menschen, die oft dem Krieg und der Verfolgung entflohen sind, unsere Hilfe. Der Chemnitzer Stadtverband und andere Verbände der Volkssolidarität versorgen und betreuen sie. Nach 70 Jahren schließt sich hier ein Kreis.
VS Aktuell: Wagen Sie eine Prognose für die nächsten 25 Jahre?
Andreas Lasseck: 25 Jahre sind zu viel. Aber auf die nächsten Jahre können wir schon blicken. Zunächst gilt es, das Erreichte zu halten, auch unter immer schwierigeren Bedingungen. Dazu gehören nicht nur stetig steigende Preise, sondern vor allem die stetig strafferen Rahmenbedingungen. Viele unserer Mitarbeiter sollten nicht an Prüfungsangst leiden, denn tagtäglich droht die Kontrolle durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), durch Ämter und Behörden. Die Unterlagen müssen dann bis ins kleinste Detail stimmen. Die gesetzlich vorgeschriebene Dokumentation der Pflege scheint hier dem Staat wichtiger als eine liebevolle Pflege zu sein. Zudem kommt, dass trotz erhöhter Steuereinnahmen zunehmend gespart wird. Auf unser Eintreten bspw. für einen besseren Personalschlüssel für die Kindertagesstätten wird dabei nur zurückhaltend eingegangen.
Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir als Verband immer weniger Mitglieder haben werden. Daher gilt es, das ehrenamtliche Engagement weiterhin zu fördern und aufrecht zu erhalten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist heute anders als vor 70 oder vor 25 Jahren. Wir werden immer weniger Menschen finden, die sich für andere stark machen. Aber es wird sie immer geben und wir müssen sie unterstützen und für unsere Anliegen gewinnen. Dafür werden wir auch unsere neuen Einrichtungen in den sogenannten alten Bundesländern nutzen. Im Laufe der Zeit wird es uns vielleicht gelingen, dort ein Mitgliederleben aufbauen.
Unsere Erfahrungen werden wir zudem in Joint Ventures mit Institutionen in anderen Ländern nutzen. Wir wollen aufgrund des Fachkraftmangels nicht nur Pflegefachkräfte bspw. aus Tschechien oder Rumänien gewinnen, sondern gleichfalls daran beteiligt sein, dass in diesen Ländern Pflegeeinrichtungen mit einem hohen Anspruch und Niveau eingerichtet werden. Dort bilden wir künftig hochqualifizierte Fachkräfte aus, die sowohl in ihrer Heimat als auch bei uns zum Wohle anderer Menschen arbeiten können. Man könnte fast sagen: Die Volkssolidarität wird international.